
Luca Giuliani, Dr. phil.
Rektor des Wissenschaftskollegs (2007-2018), Professor (em.) der Klassischen Archäologie
Humboldt-Universität zu Berlin
Geboren 1950 in Florenz, Italien
Studium der Klassischen Archäologie, Ethnologie und Italienischen Literaturwissenschaft an der Universität Basel und an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Arbeitsvorhaben
Haben römische Bildhauer griechische Meisterwerke kopiert? Eine transatlantische Kontroverse
Noch vor einer Generation schien in dieser Frage ein weitgehender Konsens zu bestehen, der vor allem auf deutscher Forschungsarbeit des späten 19. Jahrhunderts beruhte. Herausragendes Beispiel dafür sind Adolf Furtwänglers "Meisterwerke der griechischen Plastik" (1893). Unter den überlieferten römischen Statuen hatte Furtwängler Serien von Repliken erkannt und diese als Kopien nach griechischen Vorbildern erklärt. Auf dieser Grundlage unternahm er es, die verlorenen Bronzewerke der großen Bildhauer der griechischen Klassik wiederzugewinnen. Dies bezeichnete er als Kopienkritik.Furtwänglers Kopienkritik ist seit den 1980er-Jahren, vor allem in den USA, einer umfassenden Revision unterzogen worden. Miranda Marvin erhob als Erste den Vorwurf, Furtwängler betrachte römische Statuen als ein transparentes Medium, um durch sie hindurch etwas zu erfassen, was er für griechisch halte. Marvin schlug vor, eben diese Statuen umgekehrt als römische Werke ernst zu nehmen: Für die römischen Kunden hätten die Statuen in erster Linie der Ausstattung bestimmter Räume gedient, passend zu deren Funktion; Kunstkennerschaft sei ihnen in aller Regel fremd gewesen. Aber die Kritik an Furtwängler ging noch weiter. So hält etwa Elaine Gazda das Konzept der "römischen Kopie" für einen modernen (deutschen) Mythos; exakte Kopien habe es in der Antike überhaupt nicht gegeben; unter dieser Voraussetzung erscheint Kopienkritik als eine Pseudomethode, die imaginären Phantomen nachjagt.
Zwischen dem traditionellen Ansatz Furtwänglers und dem der RevisionistInnen, so gegensätzlich sie auch sind, gibt es eine überraschende Gemeinsamkeit: Beide betrachten das Kopieren als eine mechanische Tätigkeit, die nichts mit wahrer Kunst zu tun habe. Genau aus diesem Grund hatte Furtwängler sich kaum für römische Kunst interessiert (weil er die Römer für bloße Kopisten hielt); aus demselben Grund bestreiten wiederum die RevisionistInnen, die sich für eine Aufwertung römischer Kunst stark machen, die Existenz römischer Kopien - es seien nämlich gar keine Kopien, sondern eigenständige Kunstwerke.
Diese Geringschätzung der Kopistentätigkeit erweist sich indessen bei näherem Zusehen als ein typisch neuzeitliches Phänomen, das einem besseren Verständnis der antiken Verhältnisse eher hinderlich ist. Römische Bildhauer haben griechische Meisterwerke nicht einfach kopiert - sie haben das Kopieren überhaupt erst erfunden und zu einer verbreiteten Praxis gemacht. Dabei wurde großer Aufwand getrieben, um eine weitgehende Treue zum Vorbild zu erreichen; zugleich verweisen Kopien aber auch unmissverständlich auf die eigene Virtuosität. Es ist genau diese (zum Teil paradoxe) Kombination aus Selbstverweis und Originaltreue, die den ästhetischen Reiz der Kopien als Gattung ausmacht.
Lektüreempfehlung
Gazda, Elaine, Hg. The Ancient Art of Emulation: Studies in Artistic Originality and Tradition from the Present to Classical Antiquity. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2002.
Marvin, Miranda. The Language of the Muses: The Dialogue between Roman and Greek Sculpture. Los Angeles: J. Paul Getty Museum, 2008.
Dienstagskolloquium, 17.03.2020
Haben die Römer griechische Meisterwerke kopiert? Eine transatlantische Kontroverse
Die Frage ist Gegenstand einer Kontroverse gewesen, an der sich Vertreter einer (deutschsprachigen) "Orthodoxie" und einer Fronde von "Revisionisten" (hauptsächlich aus den USA) beteiligt haben. Es ist allerdings eine seltsame Kontroverse, denn eine Kommunikation über die Fronten hinweg hat es kaum gegeben. Ich werde in sechs Schritten vorgehen.
1. Einleitung. Die ersten erheblichen Funde antiker Skulptur ergaben sich in Rom im 15. und 16. Jh.: Antike Statuen wurden begierig gesammelt, aber ohne dass man in der Lage gewesen wäre, sie in irgendeine Form von historischer Ordnung zu bringen. Die ersten erfolgreichen Versuche dazu stammen von antiquarischen Gelehrten des 18. Jhs., die damit beginnen, die archäologischen Funde mit einschlägigen Nachrichten aus antiken literarischen Quellen in Verbindung zu bringen.
2. Daraus erwächst im 19. Jh. die "orthodoxe" Position: Zu deren bedeutendsten Vertretern zählt Adolf Furtwängler (1853-1907) mit seiner Monographie "Meisterwerke der Griechischen Plastik" (1893). Furtwänglers Ziel bestand darin, auf der Grundlage römischer Kopien die verlorenen griechischen Meisterwerke zu rekonstruieren: Bronzestatuen des 5. und 4. Jhs. v.u.Z., die fast alle in der Spätantike eingeschmolzen worden sind. Ich werde versuchen zu zeigen, wie Furtwängler vorgeht und auf welche Methoden er sich stützt.
3. Die Hauptfigur unter den "Revisionisten" ist für mich Miranda Marvin (1941-2012), deren ausgezeichnetes Buch "The Language of the Muses. The Dialogue between Roman and Greek Sculpture" (2008) nie auf Deutsch besprochen worden ist. Marvin wirft Furtwängler eine zutiefst hellenozentrische Perspektive vor: Er betrachte römische Statuen als ein transparentes Medium, um durch sie hindurch etwas zu erfassen, das er für Griechisch hält. Sie schlägt vor, eben diese Statuen als römische Werke ernst zu nehmen. Aber das Argument der radikaleren Revisionisten geht weiter. Sie halten das Konzept der "römischen Kopie" (immer nur in Anführungsstrichen) für einen modernen (deutschen) Mythos; sie behaupten ausdrücklich, dass es in der Antike genaue Kopien überhaupt nicht gegeben habe. Aber was genau meinen sie/wir mit "genau", und was genau ist eine Kopie?
4. Um die Behauptung der Revisionisten zu überprüfen (und zu widerlegen), stütze ich mich hauptsächlich auf einen Fund von Gipsabgüssen, der 1954 in Baiae am Golf von Neapel zutage getreten ist: Es geht um Fragmente, die von geringer ästhetischer Anziehungskraft, aber von hohem historischen Interesse sind.
5. Zwischen dem Ansatz der Orthodoxen und dem der Revisionisten, so gegensätzlich sie auch sind, gibt es eine überraschende Gemeinsamkeit: Beide betrachten das Kopieren als eine mechanische Tätigkeit, die eines wahren Künstlers unwürdig sei. Genau aus diesem Grund hat sich Furtwängler nicht für römische Kunst interessiert (weil er die Römer für bloße Kopisten hielt); und aus demselben Grund bestreiten die Revisionisten, die sich für eine Aufwertung römischer Kunst stark machen, die Existenz römischer Kopien - es seien nämlich gar keine. Woher kommt dieser schlechte Ruf des Kopierens? Ich werde zwei Wendepunkte in den Blick nehmen, die ich für entscheidend halte: Erstens die Einrichtung von Kunstakademien (seit dem 16. Jh.), wodurch sich Künstler von den Zünften emanzipierten; in den Akademien nahm die Ausbildung einen betont intellektuellen Charakter an, indem man sich mehr auf den ideellen Entwurf als auf die handwerkliche Ausführung konzentrierte. Zweitens verweise ich auf das Aufkommen der Genieästhetik im späten 18. Jh. und auf die damit einhergehende Überzeugung, wonach der wahre Künstler keine Regeln befolgt, sondern aus der Tiefe seiner Subjektivität grundlegend Neues schafft. Unter diesen Voraussetzungen erweist sich die Kopie in der Tat als das Gegenteil von Kunst.
6. Aber führt uns dieser Gegensatz zu einem besseren Verständnis antiker Kopien? Ich glaube nicht. Römische Bildhauer haben nicht einfach griechische Meisterwerke kopiert - sie haben das Kopieren überhaupt erst erfunden und zu einer verbreiteten Praxis gemacht. Dabei wurde großer Aufwand getrieben, um eine weitgehende Treue zum Vorbild zu erreichen; andererseits verweisen Kopien aber auch unmissverständlich auf die eigene Virtuosität. Es ist genau diese (zum Teil paradoxe) Kombination aus Selbstverweis und Originaltreue, die den ästhetischen Rang der Kopien als Gattung ausmacht.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
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Giuliani, Luca (Chicago, 2013)
Image and myth : a history of pictorial narration in Greek art Bild und Mythos. <engl.>
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