Ausgabe 20 / Mai 2025
„In China herrscht ein Gefühl des Unbehagens“
Leonardo Pape
Spiritualität erfährt in der chinesischen Gesellschaft einen neuen Aufschwung. Die Kommunistische Partei nutzt diesen Trend zum Versuch, sich auf andere Weise zu legitimieren als nur durch die Schaffung von Wohlstand. Dafür fördert sie volksreligiöse Aktivitäten, die früher als Aberglaube galten. Der amerikanische Sinologe und Pulitzer-Preisträger Ian Johnson erklärt die Hintergründe dieser Entwicklung.
Leonardo Pape: Ian Johnson, wir nähern uns dem Frühlingsfest, dem wichtigsten traditionellen Fest in China und anderen Teilen Asiens. Manchmal wird es mit Weihnachten verglichen. Wie viel Religion steckt darin?
Ian Johnson: Für die meisten Menschen im heutigen China ist das Frühlingsfest nichts streng Religiöses. Aber traditionell sind damit Rituale verbunden, zum Beispiel einen Tempel zu besuchen oder den Gräbern der Vorfahren Ehrerbietung zu erweisen. Heute hat das Frühlingsfest immer noch eine spirituelle Bedeutung für die Menschen, denn es ist eine Zeit, in der man mit seinen Freunden und seiner Familie zusammenkommt. Für einen Wanderarbeiter ist es vielleicht die einzige Gelegenheit im ganzen Jahr, zu Hause zu sein.
LP: Wie wichtig ist die Religion in der chinesischen Gesellschaft nach mehr als sieben Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft noch?
IJ: Manche würden sagen, die meisten Chinesen haben keine Religion mehr. Aber das stimmt nur, wenn man Religion in einem sehr engen Sinn definiert. Es geht allerdings mehr um die kleinen Dinge, die man tut, und nicht um ein strenges Dogma, an das man glaubt. Die Leute haben vielleicht einen kleinen Altar zu Hause oder zünden Weihrauch für einen kürzlich verstorbenen Elternteil an.
LP: Welchen Einfluss hat die Kommunistische Partei auf das religiöse Leben in China?
IJ: Als die Volksrepublik 1949 gegründet wurde, schuf die Partei fünf Vereinigungen, die das religiöse Leben regeln sollten: die buddhistische, taoistische, protestantische, katholische und islamische Vereinigung von China. Sie bestehen noch heute. Während der Kulturrevolution wurde jede Form von Religion stark angegriffen, und fast alle religiösen Gruppen wurden in den Untergrund gedrängt. Ende der 1970er-Jahre gab es einen neuen Aufschwung von Spiritualität, und die Struktur der offiziellen Religionen und ihrer offiziellen Vereinigungen wurde erneuert.
LP: Was löste diesen Aufschwung aus?
IJ: Am Ende der Kulturrevolution hatte die Partei nur noch wenig Legitimität in der Bevölkerung. Unter Mao war China eine totalitäre Diktatur. Danach herrschte die Vorstellung, dass man einen Freiraum haben konnte, solange man die Macht der Partei nicht herausforderte. Was die KP überraschte, war die Tatsache, dass die Menschen sich nach einer spirituellen Antwort sehnten. Der Kommunismus war offensichtlich nicht mehr in der Lage, diese zu geben.
LP: 2023 sprachen Sie von einer weitverbreiteten Desillusionierung in der Bevölkerung.
IJ: Manchmal wenden sich Gesellschaften in Krisenzeiten der Religion zu, und China durchlebt derzeit die vielleicht größte Krise seit der Kulturrevolution. Es herrscht ein echtes Gefühl der Stagnation, wie wir es in China seit einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt haben. Wir sehen uns die militärische Macht und die technologischen Fortschritte des Landes an und sagen: Wow, China ist auf dem Vormarsch. Aber ich bezweifle, dass die meisten Menschen in China das auch so wahrnehmen. In China herrscht ein Gefühl des Unbehagens. Sicherlich ist die Spiritualität eine Art, sich mehr nach innen zu wenden.
LP: Was ist der Ausweg aus der Stagnation?
IJ: Es scheint, dass die Partei sich durchmogeln will, indem sie ein wenig mehr investiert, um die Wirtschaft anzukurbeln. Sie hofft, dass einige Zukunftstechnologien greifen werden. Von den 80er- bis in die 2000er-Jahre herrschte in China Begeisterung. Wenn man heute mit Chinesen spricht, spürt man diese Begeisterung nicht mehr. Es scheint, als stünde China vor einer weniger aufregenden, härteren Zeit.
LP: In den letzten Jahren schottet sich China in einigen Bereichen von der Außenwelt ab. Macht sich dieser Trend auch beim Umgang mit Religion und Spiritualität bemerkbar?
IJ: In den späten 2000er-Jahren war die Zivilgesellschaft im Aufwind. Ab 2008 griff die Partei hart durch. Das zeigt sich in den Beschränkungen für das Internet und die sozialen Medien. Für die Religion gibt es immer noch Raum, aber sie muss innerhalb der offiziellen Vereinigungen bleiben. Unter anderem hat die Partei ein Abkommen mit dem Vatikan geschlossen, das die Weihe von Geistlichen unterstützt, aber Druck auf Untergrundkirchen ausübt, sich der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Die Religion ist Teil der Bemühungen, die Kontrolle über die Gesellschaft wieder zu zentralisieren und potenzielle Kanäle für abweichende Meinungen dichtzumachen. Und diese Bemühungen richten sich vor allem gegen die sogenannten ausländischen Religionen Christentum und Islam.
LP: Wie reagiert die Partei auf die Suche der Menschen nach Sinn und spirituellem Ausdruck?
IJ: Die Partei spürt das Bedürfnis, sich auf andere Weise zu legitimieren als nur durch die Schaffung von Wohlstand, zumal sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt hat. Sie hat den Kommunismus nicht aufgegeben. Die Kommunistische Partei steckt immer noch riesige Summen in damit verbundene Mythenbildung. All das und die Propaganda rund um Nationalismus und patriotische Erziehung funktionieren zu einem gewissen Grad. Weil die Partei weiß, dass das nicht ausreicht, inszeniert sie sich als Verteidigerin der traditionellen chinesischen Kultur. Xi Jinping besucht selbst keine Tempel, aber die Kommunistische Partei hat Tempel wiederaufgebaut. Sie fördert auch viele volksreligiöse Aktivitäten, die früher als Aberglaube galten, indem sie sie als „immaterielles Kulturerbe“ neu definiert. Unter anderem unterstützt die Regierung finanziell Pilgerfahrten zu heiligen Bergen.
LP: Weshalb fanden zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Falun Gong so viele Anhänger?
IJ: Falun Gong begann mit einer Neuentdeckung traditioneller Praktiken nach der Kulturrevolution. Ihr Führer, Li Hongzhi, schrieb schließlich ein komplettes philosophisches und religiöses System nieder. Außerdem hielt er Vorträge, die auf Tonkassetten und Videobändern in Umlauf gebracht wurden. Millionen von Menschen wurden zu seinen Anhängern.
LP: Später ging die Kommunistische Partei hart gegen Falun Gong vor. Warum sind die Dinge eskaliert?
IJ: Ende der 1990er rief Li aus Protest gegen einen Fall von negativer Berichterstattung über Falun Gong die Gruppe auf, sich in Peking zu versammeln. Es gab einen Sitzstreik vor dem Hauptquartier der Kommunistischen Partei in Zhongnanhai. Das war der Auslöser für die Niederschlagung. Die Kommunistische Partei konnte bestimmte private religiöse Praktiken tolerieren, aber keine unabhängigen Machtquellen außerhalb der Regierung.
LP: Falun Gong ist außerhalb Chinas immer noch aktiv. Einige haben sicher schon von ihrer Show Shen Yun gehört, einer Tanzaufführung, die in den nächsten Wochen auch in deutschen Großstädten zu sehen sein wird. Was für eine Organisation ist Falun Gong jetzt?
IJ: Li Hongzhi lebt jetzt in den USA. Die Organisation existiert als eine Exil-Oppositionsgruppe zur Kommunistischen Partei. Sie betreibt eine Zeitung namens Epoch Times und andere Medien. Ihre Unterhaltungsgruppe, Shen Yun, reist um die Welt und führt Lieder und Tänze auf, die angeblich die chinesische Kultur zum Thema haben, in Wirklichkeit aber eine Art Propaganda gegen die Kommunistische Partei darstellen.
Ian Johnson hat zwei Jahrzehnte lang unter anderem für die New York Times und das Wall Street Journal aus China berichtet. Vor seiner journalistischen Laufbahn studierte er Sinologie an der Freien Universität Berlin. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und Gründer der Nichtregierungsorganisation „China Unofficial Archives“, die unabhängige Berichte über die chinesische Geschichte sammelt. Derzeit forscht Johnson am Wissenschaftskolleg zu Berlin zu Religion und Spiritualität in China.
Erstveröffentlichung in Table.Briefings vom 26.1.2025 unter dem Titel „In China herrscht ein Gefühl des Unbehagens“ von Leonardo Pape.
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Fotos: © Maurice Weiss