
Lorraine J. Daston, Ph.D.
Direktorin em. des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Professorin, Committee on Social Thought
Universität Chicago
Geboren 1951 in East Lansing, Mich., USA
Studium der Geschichte, Philosophie, Mathematik und Wissenschaftsgeschichte in Cambridge und in Harvard
Arbeitsvorhaben
The Scientific Community in the Long Twentieth Century
The scientific community is by any measure a very strange kind of community. For starters, no one knows who exactly belongs to it, much less who speaks for it. Its members are a miscellany of individuals, but also of disparate institutions: universities, research institutes, government agencies, international organizations, learned societies and journals, and now preprint servers and online data archives. Nor does it have a fixed location. Despite the cozy, gemeinschaftliche associations of the word “community,” the village conjured up by the term “scientific community” is scattered all over the globe and its inhabitants meet only occasionally, if at all. Far from living in neighborly harmony or even collegial mutual tolerance, the members of this uncommunal community compete ferociously and engage in notoriously vitriolic polemics against each other. Although modern science has been seen as the locomotive of all modernity, the scientific community more closely resembles a medieval guild in its hierarchies and career stages of graduate student apprentices, itinerant postdoc journeymen, and master researchers in charge of their own workshops. The reward system is more archaic still, based on mutual recognition by peers, just as aristocratic codes of honor regulated who was qualified to provide satisfaction to whom when challenged to a duel. Nothing about the scientific community we so constantly and casually refer to today is self-evident – least of all its very existence.As part of a short book on the origins of global science, I will be studying the emergence, organization, and transformation of the international scientific community during the long, disastrous twentieth century and how it managed to survive – barely – two world wars, the Cold War, and the digital revolution.
Recommended Reading
Daston, Lorraine. Rules: A Short History of What We Live By. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2022.
Daston, Lorraine, and Sharon Marcus. “The Books That Wouldn’t Die.” The Chronicle of Higher Education 65, no. 27 (March 2019): B15–B16. https://www.chronicle.com/article/the-books-that-wouldnt-die/.
Dienstagskolloquium, 07.03.2023
Das Ende der Naturkatastrophen
Die Kategorie der reinen Naturkatastrophe, an der niemand schuld ist, stammt aus der Aufklärung. Zuvor gab es nur Katastrophen (im Mittelalter auf Latein tribulationes genannt), deren Ursachen gemischt und göttlichen, menschlichen und natürlichen Ursprungs waren und die eine Fülle von Schuldzuweisungen nach sich zogen. Im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels geht uns die Kategorie der Naturkatastrophe rasch verloren – und damit auch der Begriff des schuldlosen Übels. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die rechtliche Anerkennung von Katastrophen, für die niemand die Verantwortung trug und die zwar bedauerlich waren, sich aber der Berechnung oder Kontrolle durch den Menschen entzogen, als Zeichen des Fortschritts erschien: Wir hatten uns vom Joch religiöser Omen und Strafen befreit und lasen den Zorn Gottes nicht mehr in Ereignisse hinein, die einfach nur ein Teil des Naturgeschehens waren. Die Suche nach Schuldigen für die Schäden, die von Dürren oder Wirbelstürmen verursacht wurden, erschien uns so unaufgeklärt wie die Hexenjagd. Doch heute wollen aufgeklärte Menschen immer öfter wissen, ob Naturkatastrophen wirklich so natürlich sind, und stellen schwierige Fragen zur menschlichen Verantwortung – und zur Haftbarkeit.
Meine Frage lautet: Was passiert, wenn wir die aufgeklärte Kategorie der Naturkatastrophe verlieren und damit auch den Begriff eines schuldlosen Übels? Wie in der Aufklärung prallen in unseren Köpfen anscheinend große tektonische Platten aneinander. Der Kern des Naturbegriffs – dass sie autonom und dem menschlichen Willen gegenüber gleichgültig ist – scheint sich im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels und der Gentechnik aufzulösen. Im Positiven wie im Negativen hat sich der Umkreis menschlicher Weitsicht und Macht – und damit auch der Umkreis menschlicher Verantwortung – zumindest in unserer Vorstellung so weit ausgedehnt, dass wir die Rollen mit der Natur tauschen: Für uns, ihre geduckten Kinder, ist sie nicht mehr die allmächtige Mutter (oder grausame Stiefmutter), sondern wir imaginieren sie als unsere Schutzbefohlene, als empfindlich und der Schonung bedürftig.
Diese metaphysischen und moralischen Veränderungen sind viel zu gewaltig, um sie in einem einzigen kurzen Vortrag zu erfassen. Ich möchte mich hier darauf konzentrieren, welche Auswirkungen die schwindende aufgeklärte Kategorie der reinen Naturkatastrophe und die damit einhergehenden Begriffe des schuldlosen Übels und der menschlichen Verantwortung haben. Doch anstatt diesen Entwicklungen in philosophischen Abhandlungen nachzugehen, konzentriere ich mich auf die konkrete Praxis, nämlich wie Gerichte und Versicherungen in Echtzeit neu definieren, was Katastrophen sind und wer für sie verantwortlich ist. Ich gehe davon aus, dass hier eine Metaphysik (und Ethik) im Werden ist: Diese neuen Praktiken im Umgang mit Katastrophen verändern unser Denken in Bezug darauf, was Natur und Verantwortung heute bedeuten.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Daston, Lorraine J. (Princeton, 2022)
Rules : a short history of what we live by The Lawrence Stone lectures
Daston, Lorraine J. (Berlin, 2018)
Gegen die Natur Against nature
Daston, Lorraine J. (Chicago, 2017)
Science in the archives : pasts, presents, futures
Daston, Lorraine J. (Jerusalem, 2015)
Daston, Lorraine J. (Chicago, Ill. [u.a.], 2013)
How reason almost lost its mind : the strange career of Cold War rationality
Daston, Lorraine J. (Berlin, 2012)
Daston, Lorraine J. (2012)
Wissenschaftsgeschichte und Philosophie : Hans-Jörg Rheinberger und l'esprit de la fleuve
Daston, Lorraine J. (2011)
The empire of observation, 1600-1800
Daston, Lorraine J. (Chicago, 2011)
Histories of scientific observation
Daston, Lorraine J. (New York, N.Y., 2007)
Im Kolleg entstanden 12.07.22
Köpfe und Ideen 2014
Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune ...
ein Porträt von Wendy Espeland, Jahnavi Phalkey, Theodore M. Porter, Lorraine J. Daston, Tong Lam, John Carson von Jürgen Kaube