
Lorraine J. Daston, Ph.D.
Direktorin em., Professorin, Committee on Social Thought
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
Universität Chicago
Geboren 1951 in East Lansing, Mich., USA
Studium der Geschichte, Philosophie, Mathematik und Wissenschaftsgeschichte in Cambridge und in Harvard
Arbeitsvorhaben
Disasters and Blame
The category of the natural disaster, for which neither God nor man is to blame, is a distinctive creation of the Enlightenment, and making sense of the suffering wrought by an earthquake, a volcano, a flood, or some other explosion of nature’s raw power has been perhaps the central challenge to ethics ever since. The obverse of blameless evil – blameless natural disaster and blameless human victims – is meaninglessness: no one intended the evil done and no one deserved the evil suffered. It was all an accident. What, then, is the point? Is there a point? These questions tormented post-Enlightenment thinkers. When the Victorian poet Alfred Lord Tennyson wrote bitterly of nature as “A hollow form with empty hands” and refused to “Embrace her as my natural good,” he captured the horrified vision of nature as a theater of senseless violence. In stark contrast to the injunctions of Enlightenment natural theology, moral philosophy, and political theory from Alexander Pope to Jean-Jacques Rousseau to seek the good in nature, nineteenth-century thinkers shuddered in the face of nature’s waste and devastation, all of it devoid of purpose.My question is: what happens when we lose the Enlightenment category of natural disaster, and with it, the concept of blameless evil? As in the Enlightenment, great tectonic plates seem to be crashing up against one another in our heads. In the age of anthropogenic climate change and genetic engineering, the very idea of nature, autonomous and impervious to human will, seems to be dissolving. For good or for ill, the radius of human foresight and power – and with it the radius of human responsibility – has at least in our imaginations lengthened to the point that we have reversed roles with nature: no longer almighty mother (or cruel stepmother) to us cowering children, nature is now imagined as our ward, fragile and in need of our protection.
Recommended Reading
Daston, Lorraine. Against Nature. Cambridge, MA: MIT Press, 2019.
Dienstagskolloquium, 07.03.2023
Das Ende der Naturkatastrophen
Die Kategorie der reinen Naturkatastrophe, an der niemand schuld ist, stammt aus der Aufklärung. Zuvor gab es nur Katastrophen (im Mittelalter auf Latein tribulationes genannt), deren Ursachen gemischt und göttlichen, menschlichen und natürlichen Ursprungs waren und die eine Fülle von Schuldzuweisungen nach sich zogen. Im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels geht uns die Kategorie der Naturkatastrophe rasch verloren – und damit auch der Begriff des schuldlosen Übels. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die rechtliche Anerkennung von Katastrophen, für die niemand die Verantwortung trug und die zwar bedauerlich waren, sich aber der Berechnung oder Kontrolle durch den Menschen entzogen, als Zeichen des Fortschritts erschien: Wir hatten uns vom Joch religiöser Omen und Strafen befreit und lasen den Zorn Gottes nicht mehr in Ereignisse hinein, die einfach nur ein Teil des Naturgeschehens waren. Die Suche nach Schuldigen für die Schäden, die von Dürren oder Wirbelstürmen verursacht wurden, erschien uns so unaufgeklärt wie die Hexenjagd. Doch heute wollen aufgeklärte Menschen immer öfter wissen, ob Naturkatastrophen wirklich so natürlich sind, und stellen schwierige Fragen zur menschlichen Verantwortung – und zur Haftbarkeit.
Meine Frage lautet: Was passiert, wenn wir die aufgeklärte Kategorie der Naturkatastrophe verlieren und damit auch den Begriff eines schuldlosen Übels? Wie in der Aufklärung prallen in unseren Köpfen anscheinend große tektonische Platten aneinander. Der Kern des Naturbegriffs – dass sie autonom und dem menschlichen Willen gegenüber gleichgültig ist – scheint sich im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels und der Gentechnik aufzulösen. Im Positiven wie im Negativen hat sich der Umkreis menschlicher Weitsicht und Macht – und damit auch der Umkreis menschlicher Verantwortung – zumindest in unserer Vorstellung so weit ausgedehnt, dass wir die Rollen mit der Natur tauschen: Für uns, ihre geduckten Kinder, ist sie nicht mehr die allmächtige Mutter (oder grausame Stiefmutter), sondern wir imaginieren sie als unsere Schutzbefohlene, als empfindlich und der Schonung bedürftig.
Diese metaphysischen und moralischen Veränderungen sind viel zu gewaltig, um sie in einem einzigen kurzen Vortrag zu erfassen. Ich möchte mich hier darauf konzentrieren, welche Auswirkungen die schwindende aufgeklärte Kategorie der reinen Naturkatastrophe und die damit einhergehenden Begriffe des schuldlosen Übels und der menschlichen Verantwortung haben. Doch anstatt diesen Entwicklungen in philosophischen Abhandlungen nachzugehen, konzentriere ich mich auf die konkrete Praxis, nämlich wie Gerichte und Versicherungen in Echtzeit neu definieren, was Katastrophen sind und wer für sie verantwortlich ist. Ich gehe davon aus, dass hier eine Metaphysik (und Ethik) im Werden ist: Diese neuen Praktiken im Umgang mit Katastrophen verändern unser Denken in Bezug darauf, was Natur und Verantwortung heute bedeuten.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Daston, Lorraine J. (New York, NY, 2023)
Rivals : how scientists learned to cooperate
Daston, Lorraine J. (Princeton, 2022)
Rules : a short history of what we live by The Lawrence Stone lectures
Daston, Lorraine J. (Berlin, 2018)
Gegen die Natur Against nature
Daston, Lorraine J. (Chicago, 2017)
Science in the archives : pasts, presents, futures
Daston, Lorraine J. (Jerusalem, 2015)
Before the two cultures : big science and big humanities in the nineteenth century Proceedings / The Israel Academy of Sciences and Humanities ; Vol. 9, No. 1
Daston, Lorraine J. (Chicago, Ill. [u.a.], 2013)
How reason almost lost its mind : the strange career of Cold War rationality
Daston, Lorraine J. (Berlin, 2012)
Festkolloquium für Hans-Jörg Rheinberger : Beiträge zum Symposium am 24. 1. 2011 im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Preprint ; 433
Daston, Lorraine J. (2012)
Wissenschaftsgeschichte und Philosophie : Hans-Jörg Rheinberger und l'esprit de la fleuve
Daston, Lorraine J. (2011)
The empire of observation, 1600-1800
Daston, Lorraine J. (Chicago, 2011)
Im Kolleg entstanden 12.07.22
Köpfe und Ideen 2014
Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune ...
ein Porträt von Wendy Espeland, Jahnavi Phalkey, Theodore M. Porter, Lorraine J. Daston, Tong Lam, John Carson von Jürgen Kaube