Ausgabe 20 / Juni 2025
Das Normative schleicht sich leicht ein
von Patrick Bahners
Der Theologe Michael Seewald interessiert sich für das Dogmatische in der Dogmengeschichte
Tee oder Kaffee? Schwimmen oder Joggen? Dogmatisch oder undogmatisch? Das dritte Beispiel fällt aus der Reihe. Die säkulare Welt, unser von individuellen Präferenzen bestimmter Alltag, besteht zu großen Teilen aus Adiaphora, mit einem Begriff aus der Theologiegeschichte gesprochen, der in der Reformationszeit prominent war: aus Dingen, die man so oder auch anders bewerten kann, positiv oder negativ, weil es am Ende des Erdentages, wenn es um das Seelenheil geht, auf sie nicht ankommt. Fast alles ist heute Einstellungssache, und das gilt auch für die Einstellungen selbst, im himmelweiten Spektrum zwischen Optimismus und Skepsis. Doch ausgerechnet die Alternative „dogmatisch“ oder „undogmatisch“ ist dieser entspannten Betrachtung entzogen. De facto kann man nicht die eine Seite ebenso gut wie die andere wählen. Niemand will dogmatisch sein.
Die undogmatischen Marxisten haben in allen politischen Lagern Schule gemacht; wohl nur unter den Anhängern der Sozialen Marktwirtschaft tummeln sich noch Bekenner der reinen Lehre. Warum scheint es nötig, sich von den Dogmatikern abzusetzen, wenn doch niemand diese Position einnehmen möchte? Hier zeichnet sich ein paradoxer Zug der modernen Gesellschaft ab: Sie produziert zu ihrer Selbststeuerung einen Theorieüberschuss, ist auf formalisierte und durchformulierte Vorgaben angewiesen, denen sie gerade deshalb misstraut.
Das Wort „Dogma“ und seine Ableitungen sind auf dem Weg der Säkularisierung in den allgemein orientierenden Sprachgebrauch gelangt. Die Verwicklungen, die sich bei weltlicher Adaption der theologischen Vokabeln ergeben, könnten von Theologen mit Ironie zur Kenntnis genommen werden. Allerdings haben die professionell für Dogmen Zuständigen ihre eigenen Schwierigkeiten mit dem Thema, die sich in jüngerer Zeit zugespitzt haben.
Die Evangelische Kirche in Deutschland führt seit 1972 im Zehnjahresabstand eine „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ durch, eine repräsentative Befragung, in der 2022 erstmals auch die deutschen Katholiken erfasst wurden. Ein Ergebnis lautete, dass in beiden Konfessionen nur noch weniger als ein Drittel der Mitglieder dem Satz zustimmen: „Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat.“ Mit diesem Item aus dem Fragenkatalog hatten die kirchlichen Sozialforscher den Ideenkreis umrissen, der im Laufe der Kirchengeschichte seit frühester Zeit den grundsätzlichsten Streit, aber vielleicht auch den größten Konsens hervorgerufen hat. Die Glaubensbekenntnisse, die im Gottesdienst gesprochen und im Religionsunterricht auswendig gelernt werden, sind Erweiterungen dieser Formel.
Während sich die meisten Gläubigen zur Frage der Natur Jesu Christi wohl wirklich nur dann ausdrücklich verhalten, wenn sie ihnen aus heiterem Himmel vorgelegt wird, hat sich unter Katholiken in den deutschsprachigen und ähnlich situierten Ländern die ebenso diffuse wie bestimmte Vorstellung festgesetzt, dass sich die Lehrinhalte ändern müssen, damit praktische Wünsche Wirklichkeit werden können, die sich auf die Sexualmoral, aber auch auf die Herrschaftsverhältnisse und Umgangsformen im kirchlichen Bereich beziehen. In der langen Amtszeit von Papst Johannes Paul II. hatte man sich daran gewöhnt, dass amtliche Lehre und theologische Lehre oder Interpretation mehr oder weniger stillschweigend auseinandergingen. Neu ist, dass in der deutschen Kirche die amtlichen Hüter der Lehre, die vom Kirchenrecht mit dieser Aufgabe betrauten Bischöfe, eingeschwenkt sind und ihre Verlautbarungen an der Kirchenvolksstimmung ausrichten. In dieser Lage, die in welthistorischer Betrachtung an vorrevolutionäre Situationen erinnern mag, wurde ein außerordentliches institutionelles Instrument geschaffen: der Synodale Weg.
Als Phänomen der kirchenöffentlichen Meinung hat der Veränderungswunsch etwas Unwiderstehliches, aber die von Deutschland ausgehende Welle bricht sich am Felsen der römischen Zentrale. Was ist zu tun, wenn ein wenigstens ortskirchlich universeller Konsens sich als machtlos erweist? Es könnte sein, dass die Einhelligkeit in den Zielvorstellungen in Verzweiflung umschlägt, sollte den Zielen partout kein Mittel entsprechen.
Michael Seewald, der seit 2017 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster den Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte bekleidet, ist der theologische Autor dieser Stunde. Bei Herder, dem Freiburger Verlag aus der romantischen Gründerzeit katholischer Intellektualität, der bis heute Brücken schlägt zwischen volkskirchlichen Milieus und wissenschaftlicher Theologie, veröffentlichte er 2018 das Buch Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln. Schon 2019 folgte am selben Ort Reform. Dieselbe Kirche anders denken.
Beide Bücher sind ins Englische übersetzt worden, und englischsprachige Kollegen begegnen in ihnen einem Geist, den man traditionell mit der deutschen katholischen Theologie assoziiert: argumentative Genauigkeit verbunden mit einem Sinn für den Zusammenhang, das Gewebe der Voraussetzungen und Implikationen von Argumenten. Zwei berühmte Theologen dieses Schlages sind unter Seewalds Vorgängern auf dem Dogmatiklehrstuhl in Münster, Karl Rahner und Joseph Ratzinger. Seewald war erst 29 Jahre alt, als er den Ruf erhielt.
Die kirchenferne Öffentlichkeit sah in Ratzinger die Verkörperung des Dogmatikers im Sinne der kirchenkritischen Karikatur des unnatürlich rigiden Denkens; bei seiner Papstwahl 2005 lagen in den Pressearchiven die Schmähzettel „Panzerkardinal“ und „Gottes Rottweiler“ parat. Bedeutet die Aszendenz der Beweglichkeitspartei in der katholischen Publizistik, aber auch in der bischöflichen Kommunikation, dass die Kirche sich inzwischen der Kirchenkritik unterworfen hat? Die säkulare Routine rhetorischer Distanzierung vom Dogmatischen hat ein primitives Bild vom Dogma zur Grundlage, das aus der kirchenpolitischen Polemik stammt. Siegt diese metaphorische Redeweise jetzt über theologische Bildung und institutionelle Selbstachtung, wenn auch kirchliche Wortführer bis hinauf zu den geweihten Funktionären um keinen Preis dogmatisch herüberkommen wollen?
Insoweit es eine solche Tendenz der Auflösung des Dogmengedankens im antidogmatischen Ressentiment gibt, ist kein besseres Gegenmittel vorstellbar als die Schriften von Michael Seewald. Sein Ansatz ist es, so genau wie möglich zu bestimmen, was die Kirche unter einem Dogma versteht und verstanden hat, was mit der autoritativen sprachlichen Setzung dieses Namens typischerweise fixiert werden soll und was, wenn nicht alles fixiert wird, dann logischerweise im Fluss bleibt. Populäre Vorstellungen, wonach Glaubenssätze so oder so zeitlos gültig sein müssen oder eine hierarchische Organisation sich naturgemäß verewigt, indem sie ihr gedankliches Ebenbild in Form einer Wahrheitspyramide hervorbringt, könnten bei dieser Klärung nur stören und bleiben außen vor. Wenn Dogmen feierlich verkündet werden, kann Dogmatisierung kein Automatismus sein.
An seiner Universität war Seewald mehrere Jahre Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Wie er im Gespräch berichtet, schätzt er am interdisziplinären Setting die Gelegenheiten, „ein Sensorium dafür zu entwickeln, wie andere Fächer arbeiten“ – und das eigene. Die „Theologie arbeitet“ nämlich „in den meisten Fällen gar nicht so unähnlich“. Juristen und Ethiker schlagen sich in Seewalds Worten mit einem Problem herum, das auch den Dogmatikern zu schaffen machen sollte: „Wie kommt eigentlich in die Würdigung komplexer Angelegenheiten ein normatives Moment hinein? Durch welche Tür schleicht es sich ein?“
Der Laie (nicht im kirchenrechtlichen, sondern im akademischen Sinne) darf verblüfft sein über die Perspektive, die Seewald ganz beiläufig eröffnet, wie sie sich in Münster in Diskussionen quer zu den Fachgrenzen zwanglos durch die Wiederkehr der Problemkonstellation auftun mag. Wenn Angelegenheiten komplex sind, also verschiedenste Faktoren und Ansprüche berücksichtigt werden wollen, sind wir daran gewöhnt, uns durch das Aufsetzen einer normativen Brille Übersicht zu verschaffen, aber das versteht sich nicht von selbst. Die Würdigung komplexer Angelegenheiten könnte auch anders ablaufen, durch umfassende Abwägung aller Momente eines unwiederbringlichen Einzelfalls, ohne Rückgriff auf Normen, das heißt: auf Gebote oder Verbote, abstrakte Vorgaben, die auf eine unüberschaubare Vielzahl von Fällen Anwendung finden sollen. Das Normative schleicht sich ein, sagt Seewald so drastisch wie diskret: Es kommt wie ein Dieb in der Nacht.
Eine sprichwörtliche Warnung vor professionellen Deformationen lautet: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Diesem „Gesetz des Werkzeugs“, dessen Formulierung dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow zugeschrieben wird, will Seewald nicht gehorchen. Der dogmengeschichtlich aufgeklärte Dogmatiker soll genau umgekehrt fragen, zur Lösung welcher Art von Problem das sehr spezielle Instrument des Dogmas gedacht war und geeignet ist.
Für den Ungläubigen ist das Dogma ein Inbegriff von Willkür; dem gläubigen Gemüt mag es sich umgekehrt als der fraglos notwendige Teil der Glaubensüberlieferung darstellen. Seewald interessieren am Dogma gerade die Umstände, die sowohl die fromme als auch die unfromme Sicht ausblendet. Praktisch gesprochen beziehungsweise praxeologisch, im Geiste jüngster Forschung zu geisteswissenschaftlicher Forschung: Ein Dogma ist ein sehr kurzer Text, der einen hohen Bedarf an Textproduktion nach sich zieht. Seewald illustriert diesen Mechanismus mit dem bislang letzten von einem Papst in aller Form verkündeten Dogma, der Leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, proklamiert von Pius XII. am 1. November 1950.
Das Interesse an der Dogmenentwicklung, das Seewald schon durch sein Studium und die akademische Qualifikationsphase begleitet hat, ist nach seiner Einschätzung untypisch für seine Generation von Theologen und auch für die seiner Lehrer. Er nimmt die Bearbeitung einer Problematik wieder auf, die durch das Mariendogma von 1950 akut geworden war. „Man hat gemerkt: Es stand kein hinreichender Begründungsapparat zur Verfügung, um dieses Dogma, das man gerne begründen wollte, begründen zu können.“ Die Dogmatiker dieser Endzeit einer zwischenkonziliaren Zeit, ein Menschenalter nach dem Ersten Vaticanum und ein Jahrzehnt vor dem Zweiten, entwarfen Theorien der Dogmenentwicklung, um die zerstreuten, als lückenhaft empfundenen Belege für die Himmelfahrt Mariens im Bibeltext und in der kirchlichen Tradition entlang der Zeitachse so zu arrangieren, dass sich der Eindruck einer Akkumulation von Gewissheit ergab, eines Heraustretens der Wahrheit aus halber Latenz.
Diese Entwicklungstheorien, sagt Seewald, „zielten darauf ab, Regeln der Entwicklung zu finden“, Regeln, wie er trocken hinzusetzt, „die es nicht gibt“. Die Geschichtlichkeit wurde in Rechnung gestellt und sogleich wieder getilgt, durch Unterstellung eines regelhaften Verlaufs, mit einem Seitenblick auf die marxistische Theoriegeschichte könnte man sagen: durch einen dogmatischen Begriff von Dogmengeschichte. Nachhaltig rezipiert Seewalds Theologie Theorien, die in den Handlungs- und Textwissenschaften schon einmal prägend waren, als er 1987 geboren wurde: die postmoderne Kritik der geschichtsphilosophischen Planungseuphorie.
Auch im kürzesten Lehrbuch der Dogmatik darf der Lehrsatz nicht fehlen, der den Namen des gallischen Mönchs Vinzenz aus dem Kloster Lérins aus dem fünften Jahrhundert bis ins einundzwanzigste und in den letzten Winkel des Erdkreises getragen hat: Katholisch ist das, „was überall, was immer, was von allen geglaubt worden ist“. Die Nützlichkeit dieses Maßstabs beschränkt Seewald in seinem Dogma-Buch auf den retrospektiven Gebrauch: Die Regel kann „nach dem Streit, wenn sich die Lage übersichtlicher gestaltet, begründen, warum der angesteuerte Hafen der richtige sein soll; kriteriologisch im Nebel des Streits den Hafen zu weisen, vermag sie nicht, weil die Kennzeichen, die Vinzenz für die Orthodoxie anführt, von der Heterodoxie in gleicher Weise in Anspruch genommen werden“.
Plötzlich diese Übersicht: In der Rückschau, wenn der Dogmatiker im Streit nicht mehr Partei ergreifen muss, kann er zudem die Mittel beschreiben, mit denen der Nebel vertrieben und die Universalität hergestellt worden ist. Das Dogma von 1950 mit seinen nachgereichten Entwicklungsgeschichten war in dieser Sicht kein Ausreißer, sondern ein Muster für lehramtliches Sprachhandeln unter selbstgemachtem Begründungszwang.
Dogma im Wandel: Seewalds Alternative zu organischen Entwicklungslehren, die Veränderung theoretisch regulieren und effektiv stillstellen, ist von Michel Foucaults Epistemologie der Epochenbruchstellen inspiriert. Den Spielraum, den die heutige Kirchenreformbewegung nutzen könnte, arbeitet er sozusagen zeitversetzt oder allegorisch heraus, durch den Nachweis, dass die Epoche des Ersten Vaticanums, die im kirchengeschichtlichen Gedächtnis als bleierne Zeit abgespeichert ist, wegen der Homogenisierung der Lehre und der Anbindung der Wissenschaft ans Lehramt, eine Ära des Top-down-Aktivismus war, der Intervention in die Tradition und der Begradigung des Bestands. An „der Lehrentwicklung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts“ kann Seewald so „das Paradoxe“ hervorheben: „In einer Zeit, in der die päpstliche Reglementierung und auch die Autoritätsfixierung der Theologie ganz stark zunehmen, ist andererseits durch die Reglementierung ein erhöhter Begründungsbedarf entstanden.“
Seewald schließt auch an die Vernunftkritik der Postmoderne an, im Sinne disziplinierter Selbstaufklärung der Wissenschaftskultur. Autorität und Rationalität sind in seinem Geschichtsbild nicht zwei Pole: Gerade in der autoritären Epoche bewirkte das Papsttum einen Rationalisierungsschub. Das akademische Jahr 2021/2022 verbrachte Michael Seewald als Fellow am Wissenschaftskolleg, 2024 wurde er zum Permanent Fellow berufen. Am Kolleg kann er sich mit Juristen austauschen, die auf ihrem Forschungsfeld zwar nicht so weit gehen können, das Normative wie Seewald als Eindringling zu konzeptualisieren. Aber in ihrer Forschung dokumentieren sie auf Schritt und Tritt, wie die Normierung komplexer Angelegenheiten mit der Machtkonzentration bürokratischer Apparate einhergeht.
Wenn Seewald seine Studenten fragt, welches Dogma 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil verkündet worden ist, bekommt er die Antwort: die Unfehlbarkeit des Papstes. „Das ist eigentlich nicht richtig, denn das Thema des Ersten Vaticanums war der Jurisdiktionsprimat.“ Ein Dogma ist ein Glaubenssatz, der Verbindlichkeit erlangt, indem er den Gläubigen „vorgelegt“ wird, analog zur Gesetzesvorlage im Parlament. „Der lehrende Papst ist nur ein Modus des gesetzgebenden Papstes, irdischer Stellvertreter des obersten Gesetzgebers.“ Es gibt dann einen Primat der Jurisdiktion auch im metaphysischen Sinne: Der rechtliche Rahmen des Denkens schlägt auf den theologischen Begriff der Offenbarung durch, der in der Zeit des Ersten Vaticanums definiert wurde als „Kundgabe der Decreta voluntatis Dei“, der Dekrete des Willens Gottes. „Die Offenbarung ist ein Rechtsakt, die Glaubenslehre ein rechtsanaloges Konvolut, die Unfehlbarkeit ein Derivat des Jurisdiktionsprimats.“
Der Spielraum denkbarer alternativer Entwicklungen tut sich in Seewalds Arbeit auf durch strikte Rekonstruktion der Prämissen der amtlichen Lehre. „Wo man die Lehre nicht in diesem juridisierenden Sinne versteht, hat das Erste Vatikanische Konzil eigentlich gar nichts gesagt.“ Es hat so gesehen weniger geregelt, als sich Seewalds Studenten in ihrer vermeintlichen Schulweisheit hatten träumen lassen.
Die juridisierende, den überlieferten Glauben dem gesetzten Recht angleichende Denkungsart hat allerdings, so eine markante These Seewalds, noch unter Johannes Paul II. die päpstliche Bestimmungsgewalt über die Lehrinhalte ausgeweitet, und das mittels eines Dokuments, das seiner Textsorte gemäß gar keinen rechtsetzenden Charakter hatte: der Katechismus der Katholischen Kirche von 1992, an dessen Formulierung der damalige Kardinal Ratzinger maßgeblich beteiligt war. Seewalds Aufsatz über den Dogmenbegriff des Katholizismus aus dem Jahr 2020 trägt den prägnanten Titel „Innovation aus anti-innovatorischer Absicht“.
Abschnitt 88 des Katechismus definiert, was ein Dogma ist, oder genauer gesagt, was es heißt, wenn die Kirche ein Dogma definiert. „Das Lehramt der Kirche setzt die von Christus erhaltene Autorität voll ein, wenn es Dogmen definiert, das heißt wenn es in einer das christliche Volk zu einer unwiderruflichen Glaubenszustimmung verpflichtenden Form Wahrheiten vorlegt, die in der göttlichen Offenbarung enthalten sind oder die mit solchen Wahrheiten in einem notwendigen Zusammenhang stehen.“ Der letzte Halbsatz, die Variante, dass die Wahrheiten gar nicht zum Inhalt der Offenbarung gehören, sondern lediglich durch notwendige Schlussfolgerung mit den in der Offenbarung enthaltenen Wahrheiten verbunden sind, ist die Innovation, die nicht ausgewiesen ist und der Abwehr von Innovationen dient, da nun Lehrinhalte ins Dogma hineindefiniert werden können, deren Verbindung zum Dogma bislang eine Frage logischer Implikation und damit eine Sache theologischer Operationen war.
Wenn Seewald die kontingente Natur lehramtlicher Entscheidungen betont, die durch Schaffung textlicher Tatsachen wirksam werden, so leugnet er nicht, dass die kritische Analyse dieser Umdefinitionen durch den Dogmatiker ihrerseits etwas Kontingentes hat, er ihre Triftigkeit also nicht mit der Behauptung innerer Notwendigkeit nachweisen kann. Die theologischen Gegner der Dogmatisierung des Jurisdiktionsprimats wie der Münchner Professor Ignaz von Döllinger und sein Schüler Lord Acton protestierten im Namen der Wissenschaft und der Geschichte. Die Geschichte, die sie der päpstlichen Geschichte des päpstlichen Amtes entgegensetzten, war aber nicht unmittelbar aus den Quellen geschöpft, sondern in Seewalds Worten vermittelt durch „Idealbilder“ insbesondere der älteren Epochen. Die „Idee des absoluten wissenschaftlichen Standpunkts“ erklärt Seewald für unwissenschaftlich. Döllinger und Acton blieb es nicht erspart, selbst wiederum historisiert zu werden.
Dogmatik, wie Seewald sie versteht, ist dann eine moderne positive Wissenschaft, die im Rahmen ihrer ausgewiesenen methodischen Setzungen operiert. Dieses fachwissenschaftliche Ideal prägt auch Seewalds Habitus. Seine Begeisterung für die Sache muss man der Sorgfalt seiner Arbeit und der Frequenz seiner Veröffentlichungen ablesen, er trägt sie nicht zur Schau. Er ist nicht als Missionar der Dogmatik unterwegs, wo der typische Professor der Literaturwissenschaft wohl immer noch für das Lesen Reklame machen möchte. Dogmatik ist das, was ihn beschäftigt und schon früh beschäftigt hat, wenn auch nicht so sehr, dass er schon als Schüler Kompendien seines späteren Faches gelesen hätte und nicht lieber Romane.
Er neigt nach eigener Aussage „nicht zum biografischen Tiefsinn“, hat „keine große Motivationsgeschichte“, obwohl sie von einem Theologen oft erwartet wird und von einem Priester erst recht. „Es hat mich einfach interessiert, deswegen habe ich es gemacht.“ Im Stil eines Mathematikers oder Ingenieurs spricht er über Problemlösen als Beruf. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die fachliche Exzellenz seiner Forschung in diesem Jahr mit dem Leibniz-Preis gewürdigt und damit auch anerkannt, dass solche Exzellenz in seinem Fach möglich ist.
Das juridisierende Denken, mit dem er sich befasst, hat seinen eigenen Scharfsinn imprägniert oder vielleicht auch angezogen. Rechtskräftig vorgeschriebenes Für-wahr-Halten, dieser Modus der Erzeugung von Verbindlichkeit ist sein Thema samt seinen Problemen. Die juristische Methode ist eine Schule der immanenten Kritik. Wenn Seewald seine Leser unter den Katholiken findet, die sich dieselbe Kirche deutlich und eindeutig anders wünschen, zeigt sich, dass prophetischer Trotz nicht die einzige verbleibende theologische Ressource dieses Reformprojekts ist, dessen Betreiber angesichts der Zurückweisung durch die römische Rechtsmacht alle argumentative Arbeit für erledigt halten.
Im Aufsatz über den Katechismus von 1992 deutet Seewald dessen Neuformulierung der Dogmendefinition mentalitätshistorisch als Akt kulturkämpferischer Nachrüstung: Unter dem Eindruck der innerkirchlichen Folgen des Umbruchs von 1968 redeten Joseph Ratzinger und seine Mitbrüder im deutschen Episkopat einer „Abgrenzung nach außen“ das Wort, die durch „Misstrauen nach innen“ abgesichert werden sollte, Misstrauen gegenüber den eigenen theologischen Fakultäten. In der Rede, die der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner 1980 während des Deutschlandbesuchs von Johannes Paul II. in Gegenwart des Papstes in Fulda hielt, macht Seewald ein „Verfallsnarrativ“ aus, das „umfassender und undifferenzierter“ nicht hätte ausfallen können.
In der Sache ähnlich deutlich ist im erkenntnistheoretischen Sachzusammenhang die Kritik, die Seewald 2016 vor seiner Berufung nach Münster in einem Aufsatz mit dem Titel „Was ist Relativismus?“ und dem sarkastischen Untertitel „Konturen eines theologischen Schreckgespensts“ an Ratzingers Denkfigur einer „Diktatur des Relativismus“ übte. Mit der These, dass das zeitgenössische Denken die Beziehung zur Wahrheit gekappt habe, hatte Ratzinger eine beachtliche Resonanz auch bei säkularen Intellektuellen gefunden. Seewald merkte an, dass Ratzingers Diktatur-Formel in der theologischen Rezeption zur „Sammelbezeichnung für alle vermeintlichen Übel unserer Zeit“ geworden war. Die metakritische Untersuchung des zeitkritischen Gemeinplatzes lief auf eine ironische Pointe hinaus: Das Diktum Ratzingers blockierte „ein präziseres und wahrheitsgetreueres Bild der Ansätze“ der postmodernen Wahrheitstheorien.
Ratzingers apokalyptische Bewertung der Folgen von 1968 war bestimmt von seinen eigenen Erfahrungen als Professor. Seewald legt den Gedanken nahe, dass die von kulturkritischer Panik ergriffene konservative Partei im lehramtlichen Leitpersonal dem Eigensinn von Religion, Kirche und Theologie, der Geschlossenheit und Schlüssigkeit der eigenen Sphäre das Vertrauen schuldig blieb, das sie auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Entsprechend kann man es einordnen, wenn heutige Dogmenkritik mit kirchenreformerischer Intention als Übergriff des antidogmatischen Affekts der säkularen Öffentlichkeit auf die Kirche abgewehrt wird.
Seewalds aktuelles Forschungsprojekt, das ihn seit drei Jahren beschäftigt, ist eine Vertiefung der Linien, die er in Dogma im Wandel gezogen hat. „Ich denke darüber nach, was das Dogmatische in der Dogmengeschichte ist.“ Die grundbegriffliche Verbindung, die er zerlegt, beschreibt er mit der für ihn charakteristischen absoluten Trockenheit als „explosive Mischung“. Der Konflikt scheint im Begriff eingebaut: „Dogmatik sagt, wie es sein soll; Dogmengeschichte sagt: Alles, was sein soll, hat sich irgendwann entwickelt und verändert.“ Die Vorstellung, dass die Geschichte die Widersacherin des Dogmas sei, ist eine Selbstverständlichkeit des geisteshistorischen Orientierungswissens. Seewald kehrt auch hier die Perspektive um und geht der Vermutung nach, dass die geschichtliche Betrachtung der Anfang des dogmatischen Unternehmens ist.
Wo kommt es also her, das normative Moment in der Würdigung komplexer Angelegenheiten? „Bei Religionen schleicht sich das Normative durch die historische Tür ein.“ Seewalds Illustration im Gespräch sind die Bezugnahmen der Päpste auf ältere päpstliche Verlautbarungen. In den unter dem Namen des jüngst verstorbenen Papstes Franziskus publizierten lehramtlichen Texten dienten dem legitimatorischen Zweck mit der Zeit immer öfter Selbstzitate des Autors. Dieses Belegverhalten kann auch bei produktiven Professoren begegnen, aber eine solche selbstgemachte Dogmatik wäre Michael Seewald fremd. Er bleibt bei der Sache. „Mich interessiert: Wie wird durch den Geschichtsbezug Normativität generiert?“
Die Aufnahmen von Michael Seewald wurden auf der Seeterrasse und in den Cranach-Sälen des Jagdschlosses Grunewald aufgenommen. Vielen herzlichen Dank an Kathrin Külow und Solveig Kralik für das freundliche Wilkommen und den Zugang zu ihren Räumen!
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Fotos: © Maurice Weiss