Ausgabe 9 / März 2014
Das Hühnerei ist ein Problem! Oder: Wie das Formlose Formen schafft
Katharina Teutsch
Janina Wellmann widmet sich der bildlichen Darstellung des Werdens
Die Historikerin Janina Wellmann beschäftigte sich in ihrer Studienzeit in Berlin und Paris mit der Ideengeschichte der Aufklärung. Für ein Jahrhundert, das Gelehrte kreuz und quer durch Europa verschickte, in dem Einladungen zirkulierten, Ideen in Briefen, Bildern und Herbarien um die Welt reisten, Bücher übersetzt, gelobt und verrissen wurden, sind einfache Fragen wie "Was konnte um 1800 gewusst werden und von wem?" und "Wie wanderte dieses Wissen über Länder und Sprachgrenzen?" nicht leicht zu beantworten.
Wellmann schrieb ihre Magisterarbeit bei Wolfgang Hardtwig über die Rezeptionsgeschichte der romantischen Naturphilosophie Lorenz Okens in Frankreich und fragte nach genau einem solchen Transfer von Ideen. Wie Ideen wanderten, sollte auch das Thema ihrer Dissertation werden, nun aber zwischen Texten und Bildern. Genauer, wie konstituiert sich Wissen in Texten und Bildern, vor allem wenn sie in Hülle und Fülle produziert werden, noch dazu in einem der wichtigsten Bücher der Aufklärung – der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert?
Als Doktorandin am neu gegründeten Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in der Abteilung von Hans-Jörg Rheinberger begannen dann allerdings die Fragen ihrerseits zu wandern und suchten sich einen neuen Gegenstand: die um 1800 neu entstehende Disziplin der Embryologie. Über die Untersuchung der Verwendung von Bildern in der entstehenden Biologie wollte Wellmann der Frage nachgehen, was die Naturgeschichte in dieser Zeit unter der Entwicklung eines Organismus verstand.
Katharina Teutsch: Sie haben während Ihres Studiums auch zur französischen Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts gearbeitet. Dort interessierte Sie bald nicht mehr nur die Frage, was konkret gewusst wurde zu dieser Zeit, sondern auch, wie sich das Wissen transnational verbreitet und verändert hat. Wie wurde damals Wissenschaft überhaupt betrieben?
Janina Wellmann: Bis 1800 standen das Sammeln und Inventarisieren der Natur im Vordergrund. Diese Praktiken waren darauf gerichtet, zunächst einmal den Bestand der Natur zu erfassen und in eine gewisse Ordnung zu bringen.
KT: Und nun um 1800 kommt etwas Neues zu diesen Registern hinzu?
JW: Die Zeit um 1800 gilt in der Historiografie als Sattelzeit, als die Epoche, in der sich das Begreifen der Welt grundsätzlich änderte. Dazu gehört ganz wesentlich eine neue Auffassung von Geschichte: Alles, was existiert, hat nun auch eine Genese, die dasjenige zu dem macht, was es ist. Aber es meint auch etwas anderes: Begriffe wie „Revolution“ oder „Fortschritt“, die der Historiker Reinhart Koselleck, der auch den Ausdruck der Sattelzeit geprägt hat, „Bewegungsbegriffe“ nannte, beschreiben darüber hinaus die Öffnung der Gegenwart in die Zukunft. Die Naturgeschichte ist ein Teil dieser Bewegung; nun bekommt auch die Natur ihre eigene Geschichte.
KT: Die Biologie als Wissenschaft vom Leben entsteht in dieser Zeit. Sie haben in Ihrer Dissertation zu den Anfängen der Embryologie gearbeitet. Die Arbeit trägt den Titel „Die Form des Werdens“. Im Untertitel wird der Gegenstand eingegrenzt: „Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760 – 1830“. Warum beschäftigen Sie sich mit der Embryologie?
JW: Die Embryologie ist die Wissenschaft vom Werden par excellence. Bei der Beobachtung von Embryonen lässt sich nicht vermeiden zu fragen, was dort im Laufe der Zeit geschieht und wie sich das erfassen lässt. Eine einfache Erklärung für Entwicklung ist die, dass sich die Dinge ganz offenbar verändern und sich diese Veränderung in einer fortschreitenden Zeit schrittweise vollzieht. Die Frage, die ich untersuchen wollte, war, ob das nun tatsächlich eine Erklärung war.
KT: Und, reichte das aus?
JW: Ich behaupte, dass es um etwas anderes ging: Entwicklung zu denken bedeutet um 1800, eine hochfunktionale Struktur zu begreifen, nämlich den Organismus, und zwar unter der entscheidenden Bedingung, dass der sich permanent verändert, sich also nie gleich ist. Eine Ordnung, die sich ständig mit ihrer eigenen Auflösung konfrontiert sieht, wenn Sie so wollen.
KT: Geben Sie uns ein Beispiel.
JW: Die Entwicklung eines Organismus wie des Hühnereis – und das war der Hauptuntersuchungsgegenstand im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts – dauert etwa drei Wochen und lässt sich in Echtzeit beobachten. Die Frage, was in diesem Ei geschieht, ist nun nicht mehr eine rein philosophische, sondern eine der Beobachtung. Und was Sie in einem Hühnerei sehen, ist zunächst einmal nichts als eine völlig unstrukturierte, flüssige Masse.
KT: Und wie verhielt man sich gegenüber dieser Formlosigkeit?
JW: Die erste wirkliche, an Beobachtungen geschulte Auseinandersetzung um Entwicklung ist die Kontroverse zwischen Caspar Friedrich Wolff und Albrecht von Haller im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Beide machten Beobachtungen an Hühnerembryonen. Haller, der wohl berühmteste Anatom und Physiologe des 18. Jahrhunderts, kam zu dem Schluss, dass die Strukturen, die wir da peu à peu sich im Ei entwickeln sehen, immer schon da, lange Zeit aber zu klein sind, um auch mithilfe von Mikroskopen erkannt zu werden. Caspar Friedrich Wolff, damals ein unbekannter Doktorand, widersprach, dass das nicht eine Frage dessen sei, was wir sehen können, weil es am Anfang einfach gar nicht existiert.
Ich habe in meinem Buch versucht, die Kontroverse auch aus der Rolle der Bilder zu erklären. Denn beide benutzten in ihren Schriften, Aufzeichnungen und ihrem Briefwechsel Bilder zur Erklärung ihrer jeweiligen Ansätze: dass also etwas neu entsteht oder eben immer schon vorhanden gewesen ist.
KT: Es ging Ihnen also nicht darum, diese Kontroverse nachträglich zu entscheiden, sondern sich anzuschauen, mit welchen Hilfsmitteln man versucht hat, die eigene These zu untermauern?
JW: Ich würde nicht sagen, dass Bilder Hilfsmittel sind. Es gab immer philosophische Diskussionen über die Frage der Entwicklung. In dem Moment, in dem man anfängt, Beobachtungen zu machen, ändert sich das. Sie müssen sich hier wieder klarmachen, dass Sie im Grunde genommen am Anfang der Embryonalentwicklung erst einmal gar nichts sehen. Es geht vielmehr um das Zusammenspiel zwischen dem, was man beobachtet, und der Frage, wie man das eigentlich intelligibel macht. Der Epistemologe Gaston Bachelard hat das mal die Verquickung des Pittoresken und des Intelligiblen genannt.
KT: Sind die Bilder dann, wenn sie keine Hilfsmittel sind, Erkenntnismittel?
JW: Ja, die Zeichnung, das Bild selbst ist eine Form von Erkenntnis. Haller und Wolff eignen sich in ihrem unterschiedlichen Gebrauch des Bildes als schönes Beispiel dafür, da sie beide Hühnerembryonen untersuchen, aber nicht das Gleiche sehen. Während Haller bei seinen eigenen Untersuchungen mit den über 100 Jahre alten Zeichnungen Marcello Malpighis arbeitet, setzt Wolff in seinen Schriften die Bilder als Argumente an die Stelle des Textes.
KT: Etwas ketzerisch formuliert könnte man fragen: Aber ist es nicht eine nahezu banale Erkenntnis, dass sich Naturforscher mit Zeichnungen und Schemata beholfen haben, mit Visualisierung arbeiteten? Darwin tat das, Fabre und überhaupt sämtliche Insektenforscher.
JW: Die Forschung hat sich lange nur mit Texten beschäftigt und musste dann erkennen, dass die Wissenschaft eine ganze Bildwelt hervorgebracht hat, die eben nicht per se sekundär zur Schrift ist. Wie erkenntnisträchtig oder wie interessant es ist, sich diese Bilder anzuschauen, hängt dann tatsächlich immer davon ab, welche Disziplin Sie sich vornehmen, welche Fragen Sie haben und was die Bilder eigentlich erklären sollen.
KT: Dann konkret gefragt: Was heißt der Fall Hühnerembryo für die Bildpraxis der Forscher?
Janina Wellmann: Das Hühnerei ist ein Problem! Wenn in einem Hühnerembryo zunächst nur eine durchsichtige Flüssigkeit zu sehen ist, wie kann man dann eigentlich erkennen, dass darin etwas wird, und wie kann man dieses Werden von Strukturen tatsächlich beschreiben?
KT: Wie löst man dieses Problem?
JW: Durch eine neue Form der Darstellung, in diesem Fall durch die Bildserie. Sie ist die Form, die es erlaubt, über eine Reihe von Bildern Veränderungen im Organismus schrittweise darzustellen. Hinzu kommt eine neue Beobachtungspraxis.
KT: Man hat also Hühnerembryonen nicht immer gleich beobachtet?
JW: Malpighi im 17. Jahrhundert etwa öffnete ein Hühnerei zu einem bestimmten Zeitpunkt und beschrieb es dann genau zu diesem Zeitpunkt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts passiert etwas Neues: Man hatte vor allem durch die künstliche Bebrütung von Eiern in Brutöfen nun die Möglichkeit, Hunderte Eier gleichzeitig zu bebrüten, zu öffnen und zu vergleichen. Jetzt hatte man soviel Anschauungsmaterial, dass man die Bilder der unterschiedlichen Stadien des Hühnereis miteinander in Beziehung setzen konnte. Genau das leistet die Bildserie: Sie ist ausschließlich eine Bildrelation, damit meine ich, dass sie der Frage gehorcht: Wie gehören die Bilder untereinander zusammen? Gleichzeitig wird das, was ich nicht sehe, die Lücke zwischen den Bildern, ebenso wichtig wie die Bilder selbst. Es macht ja nur Sinn, zwei Bilder miteinander in Beziehung zu setzen vor dem Hintergrund dessen, was dazwischen alles weggelassen wurde.
KT: Bilder von Hühnerembryonen werden also miteinander in Relation gesetzt und ermöglichen damit eine Vorstellung von Entwicklung. Wie genau ist dann die Entwicklung vom befruchteten Ei zum Küken, etwa das Ausbilden von Organen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten, zu begreifen? Sie benutzen hierfür eine epistemische Kategorie, die Sie „rhythmische Episteme“ nennen. Was genau muss man sich darunter vorstellen und wie hilft es uns in der Erkenntnisfrage weiter?
JW: Rhythmus, so wie ich den Begriff gebrauche, meint das Vorstellungsbild, mit dem es um 1800 möglich wurde, Folgendes zu beschreiben: Entwicklung ist nicht nur etwas, das in der Zeit passiert, sondern Entwicklung ist eine „Ordnung“ von Zeit. Rhythmus ist eine Figur, die Wiederholung und Variation vereint, sie entwickelt somit das Neue auf der Grundlage des bereits Existierenden. Für das Küken etwa bedeutet das, dass nicht jedes Organ einzeln ausgebildet wird, sondern erst rudimentäre Organsysteme entstehen, die dann durch immer weitere Differenzierung allmählich in die einzelnen Organe unterschieden werden.
KT: Wenn man Forschung derart nah an organische Lebensmodelle bringt, ist dann die Gefahr nicht groß, dass man exakte Wissenschaft mit Kunst verwechselt?
JW: In der Regel gilt „Rhythmus“ als ein Phänomen der Moderne um 1900 – man denke an die Kunst eines Paul Klee, die Lebensphilosophie eines Ludwig Klages oder die rhythmische Gymnastik von Émile Jaques-Dalcroze. Ich möchte zeigen, dass es bereits 100 Jahre zuvor eine intensive Auseinandersetzung mit Rhythmus gegeben hat und dass zu dieser Zeit die „rhythmische Episteme“ ein gemeinsames Fundament von Kunst und Wissenschaft ist, bevor die Aufspaltung in Geistes- und Naturwissenschaften erfolgt. Interessant ist an diesem Rhythmuskonzept, dass es eine Art letzten Versuch darstellt, die Hervorbringungen der Natur dem gleichen schöpferischen Prinzip zuzuordnen wie die der Kunst.
KT: Das scheint der antiken Vorstellung von Rhythmus sehr nah zu sein.
JW: Bei Platon ist Rhythmus ein soziales Moment der Organisation des Staatswesens, weil damit verschiedene Individuen in einem geordneten Maße zusammenklingen können. Gleichzeitig setzt sich im Griechischen zum Beispiel der Körper bis in die Sprache fort: Nehmen Sie zum Beispiel den „Versfuß“ in der Poesie – podos – das ist eng verbunden mit physiologischen Rhythmen, mit Körperrhythmen.
KT: Wird nicht auf die gleiche „rhythmische“ Art und Weise auch wissenschaftliche Erkenntnis hervorgebracht?
JW: Als Wissensfigur ist das Interessante am Rhythmus diese Verbindung zwischen dem Bestehenden und dem noch nicht Seienden, zwischen Vergangenheit und Entwurf. Rhythmus bringt dies zusammen, weil er eine Folge, aber zugleich unterbrochen ist und sich in jedem Moment dieser Unterbrechung ändern kann. Das macht Rhythmus zu einer interessanten Figur, wenn man über Wissenschaft nachdenkt. Sie funktioniert ja ziemlich genau so, wie der britische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead den Rhythmus definiert hat: "The essence of rhythm is the fusion of sameness and novelty; so that the whole never loses the essential unity of the pattern, while the parts exhibit the contrast arising from the novelty of their detail."
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Fotos: © Maurice Weiss