Ausgabe 11 / April 2016
Wie kommt die Welt in den Kopf? Und wie kommt sie wieder heraus?
ein Porträt von Luc Steels, Dorit Bar-On, Holger Diessel, Peter Gärdenfors von Manuela Lenzen
Vier Forscher tragen ganz unterschiedliche Belege zum Ursprung der Sprache zusammen
„Bolima“, sagt der kleine Roboter und sein Hals knirscht leise, als er sich seinem Nachbarn zuwendet, auch er ein Roboter. Dieser blickt zwischen den überdimensionalen Bauklötzen hin und her, die vor ihnen stehen, und zeigt schließlich auf den blauen Würfel. Der erste Roboter nickt: Das Sprachspiel ist gelungen. „Blauer Würfel“ heißt in der Robotersprache von nun an „Bolima“. „Was hier geschieht, ist ein wenig magisch“, sagt Luc Steels, Linguist und Computerwissenschaftler an der Universität Barcelona und Leiter der Schwerpunktgruppe „Die Ursprünge von Sprache in Biologie, Kultur und Gesellschaft“ am Berliner Wissenschaftskolleg: „Die beiden Roboter sehen nicht dasselbe, jeder sieht die Welt aus seiner Perspektive. Und doch gelingt es ihnen, sich auf eine Bezeichnung für einen Gegenstand zu einigen.“ Steels ist überzeugt: Nur wenn Roboter die Begriffe, mit denen sie sich verständigen, selber bilden, können sie Intelligenz entwickeln – und uns zugleich dabei helfen zu verstehen, wie die Menschen das Sprechen lernten.
Die Tierwelt kennt zahlreiche ganz unterschiedliche Kommunikationsformen, vom Farbspiel der Chamäleons über den Tanz der Bienen bis zum Gesang der Vögel, doch die Vielfalt und Flexibilität der menschlichen Sprache ist einzigartig und ein wesentlicher Baustein unserer Intelligenz. Da es von den ersten Worten unserer Gattung nun einmal keine Aufzeichnungen gibt, suchen Forscher in den verschiedensten Feldern nach Hinweisen auf die Entwicklung der Sprache. In der Schwerpunktgruppe bringen vier von ihnen ihre Arbeiten zusammen: Luc Steels, der seinen roboterexperimentellen Ansatz in Anlehnung an die Synthetische Biologie „Synthetische Linguistik“ nennt, Holger Diessel, Professor für Englische Linguistik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Dorit Bar-On, Philosophin an der Universität Connecticut, und Peter Gärdenfors, Kognitionswissenschaftler an der schwedischen Universität Lund. Holger Diessel interessiert vor allem, wie sich die Strukturen der Sprache entwickeln, wenn Kinder sprechen lernen. Peter Gärdenfors sucht eine „ökologische“ Antwort auf die Frage, warum nur die Menschen sprechen lernten: eine Antwort, bei der Umwelt und Interaktion der Menschen ebenso wichtig sind wie ihre kognitiven Fähigkeiten. Sprachevolution, sagt Gärdenfors, handelt davon, wie man die Welt in den Kopf bekommt – und wieder heraus. Dorit Bar-On widmet sich dem Ausdrucksverhalten: Nur wenn wir auch das nicht sprachliche Kommunikationsverhalten der Tiere ins Auge fassen, etwa, dass der Hahn nicht nur auf eine bestimmte Weise ruft, wenn er Futter gefunden hat, sondern auch mit seinen Kopfbewegungen auf den Fundort hinweist, könne es gelingen, den immer wieder postulierten „Rubikon“ zwischen der menschlichen Sprache und der Kommunikation im Tierreich zu überbrücken. Außerdem hat Dorit Bar-On in den dynamischen Debatten der Schwerpunktgruppe einen Blick auf unhinterfragte Voraussetzungen und die Wirrnis der Begriffe. Denn wie für interdisziplinäre Zusammenarbeit typisch, verstecken sich in der Begegnung der unterschiedlichen Fachsprachen viele kleine Teufelchen, die hauptberuflich damit befasst sind, Missverständnisse zu provozieren.
In einem sind sich die vier Forscher über ihre unterschiedlichen Ansätze hinweg einig: Es gibt keinen angeborenen Sprachinstinkt, der überaus einflussreiche Linguist Noam Chomsky hat demnach unrecht. „Niemand würde bestreiten, dass Sprache und Sprechen auf angeborene Fähigkeiten angewiesen sind“, erklärt Holger Diessel blinzelnd, während die Wintersonne flach, aber warm in das Restaurant des Wissenschaftskollegs scheint. „Worum es uns aber geht, ist, ob diese Fähigkeiten nur für die Sprache da sind. Und wir sind uns einig, dass das nicht so ist. Wir werden nicht mit einem besonderen Sinn für Subjekte, Objekte, Verben und Relativsätze geboren. Die Fähigkeiten, die wir nutzen, um sprechen zu lernen, sind dieselben, mit denen wir auch laufen und Auto fahren lernen.“ Die Entstehung der Sprache war demnach ein Prozess, der auf bereits bestehende Fähigkeiten aufbaute. Und der sich massiv beschleunigte, als eine kritische Masse kognitiver Fähigkeiten vorhanden war. „Wenn es erste Anfänge von Kultur gibt, gibt es mehr und mehr Dinge, über die man reden muss, zum Beispiel über das Zubereiten von Essen, wie viel wird darüber geredet!“, konstatiert Gärdenfors. „Das ist ein Prozess, der sich selbst beschleunigt.“
Wenn Menschen keine besondere Anlage für das Sprechen haben, ist freilich die Frage, warum Menschen sprechen lernen, andere Tiere aber nicht, nur umso dringlicher. Für Gärdenfors liegt die Antwort in der gemeinsamen Evolution von Kommunikation und Kooperation: „Tiere kommunizieren über das Hier und Jetzt, Menschen planen, was sie in Zukunft gemeinsam unternehmen wollen. Dazu müssen sie eine Idee davon haben, was die anderen wollen, sie müssen gemeinsame Ziele finden, und um zukünftige Ziele zu bezeichnen, brauchen sie vielleicht nicht unbedingt Wörter, aber irgendeine Art von Symbolen.“ Belege für seine These, dass die Sprache gemeinsam mit der Kooperation entstand, findet er unter anderem in einer Disziplin, mit der Kognitionsforscher sich sonst eher selten befassen: der Archäologie. Archäologen sind sich sicher, dass die Menschen der Oldowan-Kultur, aus der uns die ältesten Steinwerkzeuge bekannt sind, einen Lehrer brauchten, der ihnen die nötigen Arbeitsschritte zur Herstellung dieser Werkzeuge vormachte. Und um einem Neuling beizubringen, wie man einen Faustkeil nach Art der Acheuléen-Kultur hinbekommt, musste der Lehrer wohl auch ein paar Worte machen. Gärdenfors ist überzeugt: Der Homo docens, der lehrende Mensch, war der Vorläufer des Homo sapiens.
Einem anderen etwas zeigen: Dass dies auf dem Weg zum ersten Wort von entscheidender Bedeutung gewesen sein muss, unterstreicht auch Holger Diessel. Säuglinge lassen ihre Aufmerksamkeit schon früh vom Blick anderer Menschen lenken. Sie schauen dorthin, wohin der andere schaut. Und noch bevor sie ihre ersten Wörter sprechen, beginnen sie zu zeigen und die Aufmerksamkeit der anderen zu lenken. „Und wenn sie dann anfangen zu sprechen, sind unter ihren ersten Wörtern Demonstrativa wie ‚da! da!‘ viel häufiger als ‚Mama‘ und ‚Papa‘“, erklärt Holger Diessel. Die unscheinbaren Demonstrativa spielen für die weitere Entwicklung der Grammatik eine große Rolle. Diessel: „Diese Wörter sind einfach, aber wenn man sich die Grammatiken rund um die Welt anschaut, sieht man, dass viele wichtige Wörter auf diesen Zeigewörtern beruhen, zum Beispiele im Englischen und im Deutschen der Artikel. Vom Beginn der Kommunikation bis zu den komplexesten Strukturen der Sprache, alles hat seinen Anfang im Zeigen.“
Das Zeigen spielt auch eine zentrale Rolle in den Sprachspielen von Luc Steels’ Robotern. „Und es gibt neue Hinweise, dass Raben mit dem Schnabel zeigen“, sagt Peter Gärdenfors. „Die Alarm- und Futterrufe der Meerkatzen sind ebenfalls mit der Ausrichtung von Blick und Körper auf das Bezeichnete verbunden“, ergänzt Dorit Bar-On. Das Zeigen hat es der Gruppe angetan.
Sind erst Wörter in der Welt, geschieht wiederum etwas Magisches: „Die Repräsentation schafft Distanz und damit Flexibilität“, erklärt Holger Diessel. Mit den Wörtern hält der Mensch die Welt auf Abstand und schafft sich so erst Platz, um nachzudenken, bevor er handelt. Was das ausmacht, hat die Psychologin und Primatenforscherin Sarah Boysen gezeigt: Schimpansen können nicht gut zählen, sie kennen eins und zwei, danach unterscheiden sie nur noch, welcher Haufen der größere ist. Und man kann sie nicht dazu bringen, auf den kleineren von zwei Haufen zu zeigen, auch wenn sie dafür die größere Belohnung bekommen. Nachdem Boysen ihnen aber Zeichen für die Zahlen bis sieben beigebracht hatte, gelang genau dies: Um die größere Belohnung zu erhalten, zeigten sie auf die kleinere Zahl.
Kann man also nur mit Sprache denken? „Mit der Sprache und dem Denken ist es wie mit dem Huhn und dem Ei“, sagt Luc Steels. „Ich denke, die Sprache ist entscheidend für die Entwicklung des Denkens, denn wenn wir mit jemandem sprechen, müssen wir Begriffe bilden, Kategorien schaffen, die Welt ordnen. Das ist wie ein Motor, der uns antreibt. Wenn man erst Begriffe hat, kann man mit sich selbst sprechen - und das bedeutet doch denken.“
Menschen kooperieren, sie lehren, sie planen und irgendwann in diesem Prozess beginnen sie zu sprechen. Eine schöne, runde Geschichte. Wenn da nicht die Raben wären. Nicht nur Menschen, auch Elefanten, Delfine, Vögel und hier insbesondere die Raben vollbringen komplexe kognitive Leistungen – ohne darüber zu sprechen. Das beschäftigt vor allem die Philosophin der Gruppe: „Ich weiß nicht, wie man die Kognition der Tiere auf den Begriff bringen soll“, gesteht Dorit Bar-On. „Sollen wir annehmen, dass diese Tiere komplexe Gedanken haben und Schlüsse ziehen, sie aber aus welchen Gründen auch immer nicht kommunizieren können? Oder sollen wir annehmen, dass sie Probleme, über die wir nachdenken, auf eine andere Weise lösen?“ Vielleicht mithilfe mentaler Karten oder subsymbolischer Repräsentationen? An eine Sprache des Geistes, die von Jerry Fodor postulierte philosophische Zwillingsschwester des Sprachinstinkts, mag Bar-On nicht glauben. „Wir haben einfach noch keine Sprache, um nicht sprachliches Denken zu beschreiben“, sagt die Philosophin. Man müsse erst einmal verstehen, was es heißt, etwas im Kopf zu haben, das nicht komplett objektivierbar, aber auch nicht nur Verhalten ist. Genau genommen sei überhaupt nicht klar, was unter Denken überhaupt zu verstehen sei. „Für eine Philosophin ist hier viel Platz am Tisch“, wirft sie lachend in die Runde – und erntet einmütiges und ein wenig ergebenes Nicken.
Ist die Sprache einmal in der Welt, bildet sie ein evolutionäres System eigenen Rechts. „Das ist ein kultureller Evolutionsprozess, schnell und mit offenem Ende“, sagt Luc Steels. Ein Evolutionsprozess, bei dem es nicht um Überleben, Fitness und Vermehrung geht, sondern um erfolgreiche Kommunikation. Neue Wörter kommen auf, alte verschwinden, Lautkombinationen, die schwer auszusprechen sind, gehen verloren, Fallmarkierungen entstehen und werden wieder abgeschliffen. Was zwar die Sprache, aber nicht unbedingt die Kommunikation einfacher macht: „Was in der Sprache nicht explizit gemacht wird, muss durch mehr Hintergrundinformationen eingebracht werden, man muss mehr im Kopf haben. Ob das für die Sprecher und Hörer einfacher oder schwieriger ist, ist nicht so leicht zu sagen“, erklärt Steels.
Evolution mit Fortschritt oder Optimierung gleichzusetzen, ist ein Kurzschluss. Das gilt für die Welt der Natur und das gilt auch für die Entwicklung der Sprache. „Über diesen Punkt haben wir viel diskutiert“, sagt Diessel. Klar ist, Sprachen verändern sich mit der Welt und den kommunikativen Bedürfnissen der Sprecher. Neue Technologien bringen neue Wörter mit sich. Aber: „Man kann sagen, von einer Protosprache zu einer strukturierten Sprache ist es ein Fortschritt, ein Fortschritt in den kommunikativen Möglichkeiten, der wiederum Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten hat. Aber wenn man eine solche Sprache einmal hat, etwa Englisch und Französisch, dann macht es keinen Sinn zu fragen, welche Sprache die bessere ist“, so Diessel. Nun ja, es mache schon einen Unterschied, ob es in einer Sprache z. B. Zahlwörter gibt oder nur eins, zwei und viele, wirft Bar-On ein. Ob es auch Fortschritte in der Sprache zur Beschreibung des Geschmacks von Wein gibt, kann spontan nicht geklärt werden. „Und wer kann ein Gesicht so beschreiben, dass man die Person wiedererkennen kann?“, fragt Gärdenfors. „Wenn man die verschiedenen Sprachen vergleicht, sieht man vor allem große Überschneidungen in den Funktionen und große Unterschiede in den Strukturen. In allen Sprachen gibt es Ausdrücke für Dinge und Handlungen, für Gegenwart und Zukunft, aber nicht unbedingt die Deklinationen und Konjugationen, wie wir sie von den europäischen Sprachen kennen“, fasst Holger Diessel zusammen, bevor sich die Gruppe in eine lebhafte Diskussion der Frage stürzt, was Sprache überhaupt zu beschreiben vermag.
Einig sind sich die vier Sprachforscher auch darin, dass die unterschiedlichen Strukturen der verschiedenen Sprachen das Denken prägen. Und in ihrem Bedauern über das Verschwinden von Sprachen: Bis zu 90 Prozent der aktuell gesprochenen Sprachen sollen in den nächsten hundert Jahren aussterben. Eine große Einheitssprache der globalisierten Welt wird es ihrer Ansicht nach dennoch nicht geben, denn Sprachen seien ebenso zur Verständigung wie zur Abgrenzung da. „Die ältere Generation schimpft immer über den Sprachgebrauch der jüngeren, das ist eine Universalie“, hat Diessel festgestellt. Die eigene Gruppe durch eine besondere Sprachverwendung abzugrenzen, sei eine der treibenden Kräfte bei der Entwicklung von Sprachen.
Sich mit einer eigenen Sprache abzugrenzen, so weit sind Luc Steels’ Roboter noch nicht. Sie arbeiten daran, erst einmal eine gemeinsame Sprache zu finden. Und sind dabei strenger mit den unhinterfragten Annahmen, unklaren Begriffen und vergessenen Voraussetzungen ihrer Konstrukteure und Programmierer, als es selbst Philosophen je sein könnten: Wenn etwas nicht passt, funktionieren sie einfach nicht oder verhalten sich absonderlich. „Mit den Robotern können wir zentrale Schritte in der Evolution der Sprache nachvollziehen, neue Ideen entwickeln und unsere Annahmen testen“, erklärt Steels. Dabei muss er den Robotern weder Begriffe noch Vokale oder Konsonanten vorgeben, sie bilden sie selbst. Das Wichtigste sei, dass die künstlichen Systeme einen Körper und Sinnesorgane haben und dass sie lernen, über das zu sprechen, was sie sehen. Und ein Roboter allein reicht nicht: „In der Sprache geht es immer um die Kommunikation mit anderen. Wenn Sie alleine wären, hätten Sie keine Sprache“, erinnert Steels. Er fasst am Wissenschaftskolleg seine Experimente zur Sprachevolution in einem Buch zusammen und freut sich über das Erreichte: Die Bildung von Wörtern, von Kategorien, selbst den Beginn einer abstrakteren Syntax und sogar rekursiver Kommunikationsstrukturen – einer denkt, dass der andere denkt ... – brachten die Roboter zuwege. Was noch fehlt, ist eine Metasprache: die Fähigkeit, über die Sprache zu sprechen. Doch Steels ist optimistisch: „Das ist wie bei der Suche nach dem Ursprung des Lebens: Man muss das Richtige zusammengießen, es schütteln und sehen, was sich entwickelt. Das ist derselbe Zugang.“ Bolima!
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Fotos: © Maurice Weiss