Simon Teuscher, Dr. phil.
Professor für Geschichte des Mittelalters
Universität Zürich
Geboren 1967 in Bern, Schweiz
Studium der Geschichte, Nordistik und Philosophie an der Universitetet i Bergen (Norwegen) und der Universität Zürich
Arbeitsvorhaben
Blut und Fleisch: Vormoderne gelehrte Debatten über Verwandtschaft
Ich möchte ein Buch zum gelehrten Nachdenken über Verwandtschaft in Europa am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit schreiben. Dem Thema kommt vor dem Hintergrund aktueller Debatten über die Reproduktionstechnologien, die Genforschung und ihre sozialen Folgen einige Brisanz zu. Denn gerade in der Auseinandersetzung mit bahnbrechenden wissenschaftlichen Entwicklungen werden kulturelle Vorstellungen über physiologische Dimensionen der Zusammengehörigkeit (z. B. "Blutsbande", "Reinblütigkeit") mobilisiert, die eine lange Vorgeschichte haben. Diese möchte ich mit Ausgangspunkt in einer Untersuchung der juristischen und theologischen Kommentare zu Verwandtschaftsdiagrammen (arbores consanguinitatis et affinitatis) rekonstruieren. Diese Kommentare erschienen zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert in dichter Folge und verfochten einander zuwiderlaufende Konzeptionen der Verwandtschaft. Sie erörterten unter anderem, was Verwandtschaft eigentlich ist, wie man diese medial emergent machen kann, welche physiologischen Substanzen (z. B. Blut oder Fleisch) Verwandte teilen und wie dies mit der Vererbung von Eigenschaften und Gütern zusammenhängt. Ging es in dieser gelehrten Tradition anfänglich vor allem um die Durchsetzung von Inzestverboten, d. h. gewissermaßen um die Umgehung der Verwandtschaft, erschien diese mit der Zeit zunehmend als gesellschaftliche Ordnungskategorie. Entgegen Vorstellungen über einen Bedeutungsverlust der Verwandtschaft seit dem Mittelalter wird das Projekt thematisieren, dass Verwandtschaftsvorstellungen eine produktive Rolle bei der Formierung moderner Kategorisierungen des Sozialen wie der Rasse oder der Ethnie spielten.Lektüreempfehlung
Teuscher, Simon. "Flesh and Blood in the Treatises on the Arbor Consanguinitatis (Thirteenth to Sixteenth Centuries)." In Blood and Kinship: Matter for Metaphor from Ancient Rome to the Present, herausgegeben von Christopher H. Johnson, 83-104. New York/Oxford: Berghahn, 2013.
-. Lords' Rights and Peasant Stories: Writing and the Formation of Tradition in the Later Middle Ages. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2012.
Teuscher, Simon mit David W. Sabean und Jon Mathieu, Hg. Kinship in Europe: Approaches to Long-Term Development (1300-1900). New York/Oxford: Berghahn, 2007.
Kolloquium, 29.10.2013
Fleisch und Blut. Rekonzeptualisierungen der Verwandtschaft im Mittelalter
Der Vortrag untersucht, wie europäische Gelehrte zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert Verwandtschaft neu denken. Mein Hauptinteresse gilt Vorstellungen von der Physiologie der Verwandtschaft und von den Körpersubstanzen, die Verwandte teilen.
Zunächst erläutere ich, was meine Untersuchung zu einer Neueinschätzung von Geschichtsbildern beitragen möchte, die durch Modernisierungstheorien geprägt worden sind. Letztere lehren, dass Verwandtschaft vor allem in traditionalen Gesellschaften wirksam ist und im Westen seit dem Mittelalter einem Bedeutungsverlust unterliegt. Dagegen spricht nicht nur eine wachsende Zahl historischer Untersuchungen. Auch neue Richtungen der Ethnologie kritisieren, wie Analysen von Verwandtschaftssystemen, die sich an Modernisierungstheorien anlehnen, ohne weitere Problematisierung von den "natürlichen" Tatsachen der Reproduktion ausgehen. Dem halten neue Ansätze entgegen, dass das Reden über Physiologie - in Debatten über neueste Errungenschaften der Genetik ebenso wie in sogenannten traditionalen Gesellschaften - vor allem als Idiom der Verhandlung von Zugehörigkeit funktioniert. Diese Forschungsentwicklungen geben Anlass, Fragen nach der Geschichtlichkeit von Verwandtschaftskonzeptionen neu anzugehen.
Im Mittelteil analysiere ich juristische und theologische Kommentare zu den Verwandtschaftsdiagrammen, die Eingang in viele Sammlungen des Kirchenrechts fanden. Hier lässt sich verfolgen, wie sich ein neues Verständnis von Verwandtschaft herausbildete: Im Kontext der Inzestdebatten des 12. Jahrhunderts rangen Gelehrte vor allem um Systematisierungen von Verwandtschaft als Beziehung. Die dabei entwickelten Methoden der Messung und der Visualisierung ermöglichten es dann aber, Verwandtschaft vermehrt auch der Definition und Umgrenzung von Gruppen zugrunde zu legen. In diesem Zusammenhang kollabierten auch hergebrachte physiologische Vorstellungen. Bis gegen 1400 verstanden die Kommentatoren Verwandtschaft als Einheit des Fleisches; danach setzten sich Vorstellungen über die Weitergabe von Blut sowie über dessen Reinheit und Vermischung durch. Die neue Sicht der Verwandtschaft privilegierte die Abstammung gegenüber der Heirat, die Linearität gegenüber der Vernetzung und die Persistenz gegenüber der Wandelbarkeit.
Im letzten Teil beziehe ich die Entwicklung dieser Konzeptualisierungen auf die soziale Praxis. Ich zeige an Beispielen, wie die mit Blut verbundene Verwandtschaft als Operator neuer Kategorisierungen des Sozialen wie Dynastien, Geburtsständen oder Rassen wirksam wurde. Entgegen der Vorstellungen von einem Bedeutungsverlust wird Verwandtschaft damit gerade in jenen Entwicklungen produktiv, die man gemeinhin mit den Anfängen der Moderne in Verbindung setzt.