Alois Hahn, Dr. phil.
Professor der Soziologie
Universität Trier
Geboren 1941 in Salzkotten b. Paderborn
Studium der Soziologie, Philosophie, Ethnologie und Volkswirtschaft in Freiburg und Frankfurt/Main
Arbeitsvorhaben
Inklusion und Exklusion
In den letzten Jahren haben soziale Ausschließungsvorgänge das Interesse der soziologischen Forschung auf sich gezogen. "Klassentheoretische", diskurstheoretische und systemtheoretische Ansätze widmen sich den Problemen zunehmender Verarmung und sozialer Benachteiligung bestimmter Gruppen (Fremde, AIDS-Kranke, religiöse Minoritäten, Angehörige benachteiligter "Rassen", Arbeitslose usw.).Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass es keine Ausschließungsprozesse ohne gleichzeitige Inklusionsvorgänge gibt. So kann man historisch beobachten, dass z. B. die Ausschließung bestimmter Gruppen von Straftätern mit der Erfindung des Gefängnisses, bestimmter Formen von Kranken mit neuen Formen des Hospitals oder der Quarantäne erst möglich werden usw. Alle Ausschließungen sind insofern partiell, wenn man von der Tötung eines Menschen einmal absieht. Es gilt folglich die Dialektik nachzuzeichnen, wie neue Formen von Inklusion neue Exklusionen generieren.
Als leitende Gesichtspunkte einer auch historisch verfahrenden soziologischen Analyse könnte man beispielsweise folgende Unterscheidungen beobachten: Sind die Exklusionen dauernd oder vorübergehend, umfassen sie alle menschlichen Beziehungen oder nur einige, sind sie freiwillig oder erzwungen, gelten sie als Privileg oder als Stigma, betreffen sie nur das Diesseits oder auch das Jenseits, werden sie mit Schuld oder mit Gefährdung begründet?
Lektüreempfehlung
Hahn, Alois. Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Stuttgart: Enke, 1968.
-. Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000.
-. Erinnerung und Prognose: Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft. Opladen: Leske und Budrich, 2003.
Kolloquium, 16.11.2004
Kranke und Kriminelle, Fremde und "Überflüssige". Zur Soziologie von Inklusion und Exklusion
Fremde sind überall gleichzeitig inkludiert und exkludiert. Sie leben unter "uns" und gehören doch nicht (zumindest nicht ganz) zu "uns". Denn fremd im soziologischen Sinne ist nach Georg Simmel nicht der Bewohner des Sirius, auch nicht derjenige, der heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt. Dieser zweideutige Status kann immer wieder zu prekären, oft lebensbedrohlichen Situationen führen. Die vorübergehende Duldung kann, zumal wenn die "gastgebende" Gruppe selbst unter Druck gerät oder einen Sündenbock braucht, teilweise oder gänzlich aufgekündigt werden. Vertreibung, Verfolgung oder Ermordung können dann die Folge sein. Der Fremde wird in gewisser Weise "vogelfrei" (ein "homo sacer" im Sinne Agambens). Wer "Fremder" ist, wird dabei stets durch soziale Etikettierung (labeling) definiert. Dabei kann jemand, der gestern noch als "Einheimischer" galt, heute als Fremder behandelt werden.
Vormoderne Gesellschaften inkludieren die Mehrzahl ihrer Mitglieder über die Zugehörigkeit zu einem Stand oder einer Kaste (z.B. als Bauer oder Adliger). Man kann nur einer Schicht angehören. Innerhalb dieses Standes nehmen sich die jeweiligen Mitglieder als virtuell Gleiche wahr. Exklusion bezieht sich auf die Personen, die gänzlich aus der Ständeordnung herausfallen, z.B. Bettler, Fremde, Vagabunden, religiöse oder ethnische Minderheiten. Der typische Modus der Exklusion dieser Gruppen vollzieht sich durch Nichtzulassung, Vertreibung, Bannung oder Ächtung, evtl. durch Ghettoisierung, also eher durch Kontaktvermeidung: "exkludierende Exklusion" (im Gegensatz zur inkludierenden Exklusion, wie sie die Moderne seit der Frühen Neuzeit kennt. Dort werden die Auszuschließenden etwa in Heilanstalten, Gefängnissen usw. vom Verkehr mit der übrigen Welt ausgeschlossen, gleichzeitig aber in "geschlossenen" Anstalten streng überwacht. Das Modell hierfür hat Foucault in seiner Theorie des Panoptismus analysiert). Eine Alternative von der Totalinklusion in den Stand bietet das religiöse System. Vor allem durch die Annahme eines Lebens nach dem Tode. Dort werden die Einzelnen individuell nach ihren spezifisch religiösen Meriten und ohne Berücksichtigung des Standes dauernd aus dem Paradies exkludiert (z.B. durch Inklusion in die Hölle) oder zeitlich begrenzt durch Inklusion in das Fegefeuer. Deshalb können auch Kaiser und Päpste in der Hölle landen, ohne das irdische Statussystem in Frage zu stellen.
Für die Moderne ist ein hohes Ausmaß von funktionaler Differenzierung charakteristisch. Diese führt auf der Ebene der Personen zunächst einmal über hohe Arbeitsteilung und wahrnehmbare, aber schwer legitimierbare Differenzen der Lebenschancen und damit der Interessen zu wechselseitigen Entfremdungen. Der mir lokal Nahe, z.B. der Trierer Bischof, kann mir fremder sein als der lokal weit Entfernte, z.B. ein afrikanischer Soziologe. Der Einzelne kann in keinem einzigen Subsystem als ganze Person inkludiert sein. Jeder aber nimmt - das jedenfalls ist die Verheißung der bürgerliche Gesellschaft seit Anbeginn - zwar an jedem Subsystem teil, nicht nur wie in der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft an nur einem, aber jedes Mal nur mit einem Aspekt seiner Person, z.B. als Arzt oder Patient, als Zahler oder als Unternehmer, als Richter oder Rechtssuchender u.s.w.. Luhmann formuliert diesen Tatbestand so, die Personen seien in der modernen Gesellschaft strukturell "exkludiert" Ein prekärer Versuch diese Spannung zu überwinden bestand historisch in der nationalen Identifikation, die reale generalisierte Fremdheit durch fiktive Verbrüderung zu überwinden suchte. Ausgeschlossen aus dieser Einheit waren u.U. die rassisch oder ethnisch Fremden. Diese wurden nun als mögliche Gefahren für die Gesundheit und Solidarität des "Volkes" imaginiert. Sie geraten damit ideologisch in die Nähe von Trägern bestimmter perniziöser Keime, wie z.B. AIDS oder anderer als erblich oder ansteckend angesehenen Krankheiten. In beiden Fällen verschärft sich die supponierte Gefahr, wenn dieses als deviant unterstellte "Sein" oder analog wirkende unterstellte verbrecherische Tendenzen nur mit Hilfe spezieller Identifikationsverfahren entdeckt werden können z.B. AIDS-Tests, Hexenmale, physiognomische Expertisen oder "Ariernachweise"). Als Modelle für die Legitimation von Ausschließung lassen sich neben der "Selbstausschließung" und der Exklusion als Schuldvergeltung immer auch Gefahrenunterstellungen ausmachen. Dabei spielen vor allem Vorstellungen von Erblichkeit und Ansteckung eine besondere Rolle. In der aktuellen gegenwärtigen Soziologie werden zusätzlich neue Formen von Exklusionen debattiert, die sich als Folge anonymer Prozesse als Exklusion vom Markt manifestieren und dann die Teilnahme an allen anderen Subsystemen kumulativ unterbinden. Dabei scheint als besonders bedrohlich, dass die derart Exkludierten nicht wie noch die "industrielle Reservearmee" bei Marx ein Heer Ausgebeuteter darstellt, sondern als ein im Kontext moderner Wirtschaft nicht einmal mehr Auszubeutender, weil sie für den Verwertungszusammenhang als "überflüssig" erscheinen, als "surnuméraires" (Castel).
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Hahn, Alois (2013)
Konsensfiktionen als Ausgleich für Machtdefizite
Hahn, Alois (2011)
Erinnerungen an meine Begegnung mit Franz Zelger
Hahn, Alois (2007)
Weinerfahrung, Distinktion und semantischer Raum
Hahn, Alois (Berlin, 2006)
Prozesse der Inklusion und Exklusion Prozesse der Inklusion und Exklusion
Hahn, Alois (2006)
Theoretische Ansätze zu Inklusion und Exklusion
Hahn, Alois (2004)
Verantwortung im Kontext von Religion und Kunst
Hahn, Alois (2004)
Der Mensch in der deutschen Systhemtheori
Hahn, Alois (Opladen, 2003)
Erinnerung und Prognose : zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ; Bd. 22
Hahn, Alois (2000)
The social construction of the stranger
Hahn, Alois (Frankfurt am Main, 2000)
Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte : Aufsätze zur Kultursoziologie Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 1505