Freiburger Memorandum zur Zukunft der Regionalstudien in Deutschland am Beispiel ausgewählter Weltregionen
Mit der sich beschleunigenden Globalisierung wird auch die Bundesrepublik Deutschland zunehmend in globale Handlungszusammenhänge eingebunden. Damit wächst der Bedarf an fundiertem Wissen über außereuropäische Regionen. Doch scheinen Sparzwänge und Studienreformen vor allem jene Fächer, Fachorientierungen und Studiengänge in ihrer Existenz zu bedrohen, die diese Kenntnisse zu vermitteln vermögen. Dieser Widerspruch war Gegenstand einer gemeinsam vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Universität Freiburg unter dem Titel "Regional- und Kulturwissenschaften in Deutschland und die neuen Studiengänge" am 16. und 17. Dezember 2005 in Freiburg ausgerichteten Tagung. Sie richtete sich vornehmlich an Vertreterinnen und Vertreter wissenschaftlicher Disziplinen, die sich mit den Gesellschaften, Kulturen und Sprachen Asiens, des Nahen Ostens, Lateinamerikas und Afrikas befassen. In Plenumsdebatten, Arbeitsgruppen und im Dialog mit Vertretern der HRK, des Wissenschaftsrats, Fachgesellschaften, Wirtschaft, Diplomatie und den Studierenden erarbeiteten die rund 120 Konferenzteilnehmer die im folgenden in Thesenform zusammengefassten Empfehlungen.
- Die gegenwärtige hochschulpolitische Umbruchsituation sollte von den mit Regionalforschung befassten Fächern offensiv und kreativ angegangen werden. Dies gilt vor allem für jene Standorte von asien- und afrikawissenschaftlichen BA-Studiengängen, die nicht über die gesamte wünschenswerte Fachkompetenz verfügen. Hier ist auf die Auslobung von Förderprogrammen zu dringen, die eine größere Mobilität von Lehrenden (z.B. Wandermodule) und Studierenden (durch inter-universitäre Kooperation im Rahmen gemeinsamer BA-Studiengänge) ermöglichen. Die Hochschulen sind zu ermutigen, ihre Mitglieder in solchen Initiativen zu unterstützen. Damit würde auf nationaler Ebene nur nachgeholt, was im Bereich der internationalen Hochschulkooperation bereits mit Erfolg praktiziert wird. Zugleich müsste durch Sonderregelungen auch der Bestand von Fächern (z.B. Mongolistik) gesichert werden, die in Deutschland ganz aus dem Fächerspektrum zu verschwinden drohen. Es bestand zudem weitgehende Einigkeit darüber, dass Studierende auch weiterhin nicht nur für außerakademische, sondern auch für akademische Berufe adäquat ausgebildet werden müssen. Dazu sind konsekutive Studienangebote auf der BA- und MA-Ebene erforderlich, ohne damit aber Qualifizierungsangebote für "quereinstiegswillige" MA und PhD-KandidatInnen auszuschließen.
- Die Vorteile einer Zentrenbildung in der Regionalforschung bestehen vor allem in der Herstellung von Synergieeffekten und der Sicherung einer kritischen Masse in puncto personeller und materieller Ausstattung. Zentrenbildung darf aber nicht zum Synonym für Sparprogramme werden, in deren Gefolge Asien, Afrika, der Nahe Osten oder Lateinamerika aus Lehre und Forschung all jener Hochschulstandorte verschwinden, die nicht über Zentren verfügen. Da mit Zentrenbildung immer auch universitäre Profilbildung verbunden ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Einrichtung von Zentren zu weit reichenden Konsequenzen in der Berufungspolitik führt. Dies hieße, dass beispielsweise ein Ökonom mit Asienspezialisierung nur noch an Universitäten berufen würde, die auch über ein Asienzentrum verfügen. Studierende der Wirtschaftswissenschaften an anderen Universitäten müssen dann auf eine fachlich kompetente Lehre mit dem Schwerpunkt Asien verzichten.
- Ein solche Entwicklung würde die derzeit beobachtbare Tendenz zur Schrumpfung der "Mutterdisziplinen" (Ökonomie, Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte, Geographie, Ethnologie, Rechtswissenschaft etc.) auf ihre vermeintlich nicht-regionalen oder "universalen", tatsächlich aber primär oder ausschließlich an Europa und dem Norden orientierten Kernbestände verstärken. Einzelprofessuren in den "Mutterdisziplinen" mit regionaler Spezialisierung dürfen daher nicht unter Verweis auf Zentren anderswo gestrichen oder umgewidmet werden. Ganz im Gegenteil ist eine sehr viel stärkere Verankerung der Regionalstudien in Lehre und Forschung in den "Mutterdisziplinen" anzustreben. Hier ist insbesondere auf die prägenden paradigmatischen Impulse hinzuweisen, die die "Mutterdisziplinen" aus der Regionalforschung erfuhren (z.B. Dependenztheorie, Transformationsforschung, "critical junctures", "cultural turn" in den Sozialwissenschaften etc.). Weil disziplinär ausgerichtete Professuren mit regionaler Spezialisierung sowohl in regional als auch disziplinär orientierten Instituten eingerichtet werden können, stellen Doppelmitgliedschaften eine erstrebenswerte Organisationsform dar.
- Grundlage einer international wettbewerbsfähigen Regionalforschung ist eine solide sprach- und landeskundliche Ausbildung. Vor allem bezüglich solcher Fächer, in denen das Erlernen der Sprache besonders schwierig und mit großem Lehr- und Lernaufwand verbunden ist (z.B. Sinologie, Japanologie, Koreanistik, Arabistik, etc.), muss bezweifelt werden, ob ein dreijähriger Bachelor-Studiengang die notwendigen Sprachfertigkeiten zu vermitteln vermag. Abhilfe kann hier eine Flexibilisierung der Studiendauer im Sinne einer "3+1"-Variante schaffen, die Auslandsaufenthalte, Praktika und (vorgeschaltete) (Sprach-)Propädeutika zulässt. Auch diese BA-Varianten müssen voll BAföG-fähig sein.
- Kooperationen im Sinne einer beidseitigen Studierenden- und Dozentenmobilität mit asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Partneruniversitäten sind zu stärken. Durch sie wird die Möglichkeit erleichtert, Auslandaufenthalte - die neben Sprachfertigkeiten auch interkulturelle Kompetenz vermitteln - in die neuen Studiengänge zu integrieren. Sie müssen vom DAAD durch angepasste Förderinstrumente unterstützt werden. Deutsche Hochschulen können hierbei, ohne dass darüber individualisierende Kooperationsvarianten vernachlässigt werden sollten, besondere Synergieeffekte erzielen, indem sie durch den gemeinsamen Aufbau von Offshore-Service-Einrichtungen an Partneruniversitäten die Studierendenmobilität fördern. Zu prüfen ist, inwieweit der DAAD den Aufbau derartiger Einrichtungen unterstützen kann.
- Regionalstudien beruhen auf den unterschiedlichsten disziplinären Ausrichtungen. Auf die Erhaltung dieser Vielfalt (sprach-, literatur-, geschichts-, kultur-, sozial, politik-, wirtschafts- usw. -wissenschaftlich) ist auch in Zukunft zu achten. BA-Programme müssen ihren Studierenden vor allem auch Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln, die auf eine Berufspraxis im nicht-akademischen Bereich vorbereiten. Das DAAD-Programm "Sprache und Praxis" könnte hier wegweisend sein. Eine Ausweitung auf andere Regionalstudien im Sinne eines "BA-Plus" unmittelbar nach Abschluss eines BA-Studiums sollte unbedingt anvisiert werden.
Regionalstudien sollten vor allem auf der BA-Ebene einen besonderen Gegenwartsbezug haben. Auf der MA- und PhD-Ebene wiederum ist die Vernetzung mit den "Mutterdisziplinen" z.B. durch die Teilnahme der Fächer an Graduiertenkollegs, Forschergruppen, SFBs, etc. wichtig. Der Gefahr, bei geringen Kapazitäten zwischen den Interessen der Nachbardisziplinen aufgerieben zu werden, sind wir uns aber bewusst. - Universitäten und Fachhochschulen haben in der Vergangenheit unterschiedliche, gleichwohl durchaus komplementäre Ausbildungsprofile entwickelt. Deren von der Politik favorisierte Angleichung erscheint wenig sinnvoll und birgt das Risiko, die jeweiligen komparativen Vorteile zu mindern. Vielmehr sollten beide Typen tertiärer Ausbildung ihre spezifischen Profile weiterentwickeln.
- Die große kulturelle Heterogenität Asiens, des Nahen Ostens, Lateinamerikas und Afrikas verbietet eine rigide Standardisierung der neuen, mit diesen Regionen befassten Studiengänge. Sie müssen diese Vielfalt in den Lehrinhalten sowohl in theoretischer als methodischer Hinsicht widerspiegeln. Dazu bedarf es in den die Regionalforschung tragenden Disziplinen selbst, in den universitären Entscheidungsgremien, in der Ministerialverwaltung und in den Akkreditierungsagenturen eines hohen Maßes an Flexibilität. Nur so können die Absolventen das Wissen und die Fertigkeiten erwerben, die Politik und Wirtschaft dringend benötigen um den Herausforderungen der Globalisierung erfolgreich zu begegnen.
Da die neuen Studiengänge (BA/MA) in den meisten regional orientierten Disziplinen noch am Anfang stehen, kann die Freiburger Konferenz nur der Ausgangspunkt einer längeren Debatte sein, die zunehmend auch die empirischen Befunde einbeziehen muss. Es ist daher geplant, im Abstand von ein bis zwei Jahren weitere Veranstaltungen dieser Art in Zusammenarbeit mit dem DAAD folgen zu lassen, die in einen größeren internationalen Zusammenhang eingebettet werden, auch die Regionen des "Nordens" einbeziehen und komparative, trans- und interregionale Bezüge thematisieren sollten. Diese Folgekonferenzen müssten darüber hinaus auch eine Fokussierung der Debatte auf spezifische Regionen und ihre besonderen Probleme ermöglichen.